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Eines Tages geht der Rabbi

Eines Tages geht der Rabbi

Titel: Eines Tages geht der Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Kemelman
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der West Street ist am nächsten.»
    «Ja, aber da ist es um diese Zeit immer furchtbar voll. Wollen wir schnell nach Salem fahren? Mein Wagen steht an der Ecke.»
    Während sie hinübergingen, sah er sie verstohlen von der Seite an und überlegte, ob sie nur auf eine schnelle Bekanntschaft aus gewesen war oder ob sie sich ehrlich für Politik interessierte.
    «Da sind wir», verkündete er.
    Als sie das schreiende Pink seines Wagens sah, war sie doch etwas verblüfft.
    «Das ist Ihr Auto? Und ich dachte, Sie sind ein konservativer Typ. Solche Kutschen haben sonst nur Eisverkäufer.»
    Er lachte ein bißchen. «So was Ähnliches war der Wagen auch. Der Mann, von dem ich ihn habe, ließ vier Autos in der gleichen Farbe durch die Gegend rollen und Eis verkaufen. Mit diesem Schlitten ist er selbst rumgefahren und hat seine Leute überwacht. Dann ging er pleite, und ich bekam sein Auto billig, wegen der Farbe. Ich will ihn neu spritzen lassen, nötig hat er’s, dort am Kotflügel blättert der Lack schon ab. Ich bin nur noch nicht dazu gekommen.» Daß er den Wagen schon seit fast einem Jahr besaß, verschwieg er lieber.
    «Aber hoffentlich erst nach der Wahl. Ein so auffälliges Fahrzeug ist im Wahlkampf Gold wert.»
    «Finden Sie?»
    «Natürlich. Dadurch erkennt man Sie auf den ersten Blick. Sie werden doch ein Schild auf dem Dach anbringen, nicht?»
    «Wie? Ja, natürlich.»
    «Ich an Ihrer Stelle würde das sofort machen. Gewählt wird man, wenn man einen genügend großen Bekanntheitsgrad hat, und durch so etwas wird man am schnellsten bekannt. Fehlt nur noch das Schild mit Ihrem Bild und Ihrem Namen.»
    «Sie wissen aber wirklich eine Menge über dieses Zeug.»
    «Nicht so viel, wie ich gern wissen würde.»
    «Sie interessieren sich für Politik?» fragte er fast ein wenig erstaunt.
    «Es ist das Interessanteste, was es überhaupt gibt.»

8
    Bei der außerordentlichen Mitgliederversammlung zur Wahl eines neuen Präsidenten, die erforderlich geworden war, um die nach dem Rücktritt von Sam Feinberg entstandene Lücke zu schließen, war der Wahlsieger nicht einmal persönlich anwesend. Auch Rabbi Small nahm nicht teil, denn er gehörte genaugenommen nicht zum Verwaltungsgremium der Synagoge. Er war unmittelbar nach dem Minjan, vor Beginn der Sitzung, nach Hause gegangen und erfuhr die Neuigkeit von Morton Brooks, dem Leiter der Religionsschule, der auch nicht dazugehörte, aber anwesend war, weil am Sonntagvormittag Unterricht abgehalten wurde und die Sitzung in der Schulaula stattfand.
    Kurz nach zwölf kam Morton Brooks mit seinem Sportwagen angedonnert, hielt mit kreischenden Bremsen vor dem Haus des Rabbi und klingelte. Als Miriam öffnete, stellte er sich in Positur, die Arme ausgebreitet, und verkündete dramatisch: «Da bin ich!»
    Er trug ein hellbraunes, fischgrätgemustertes Sportsakko mit Lederflecken an den Ellbogen, darunter ein cremefarbenes, offenes Sporthemd und um den Hals ein leuchtendrotes Halstuch. Seine kurzen, spillerigen Beine steckten in sandfarbenen Sporthosen, die Füße in dunkelbraunen Wildlederschuhen mit modischen Schnürsenkeln.
    «Sie sehen mal wieder sehr flott aus, Morton», sagte Miriam lächelnd. «Kommen Sie doch herein.»
    «Was man sonntags auf dem Land eben so trägt», erläuterte er und lächelte etwas geziert.
    «Aber als Leiter einer Religionsschule …»
    «Sie wissen doch, daß das kein Dauerzustand ist, Miriam», sagte er vorwurfsvoll. Er leitete jetzt seit acht Jahren die Religionsschule von Barnard’s Crossing und war davor schon etliche Jahre als Lehrer für Hebräisch tätig gewesen, wartete aber noch immer zuversichtlich auf einen Ruf ans Theater, dem seine eigentliche Liebe gehörte, seit er Buchhalter und Mädchen für alles bei einer jiddischen Theatergruppe in New York gewesen war. Das Theater hatte sich ständig am Rand der Pleite bewegt, und gelegentlich hatte man ihm Statistenrollen gegeben, um Schauspielergagen zu sparen.
    Der Rabbi und Miriam setzten sich aufs Sofa, und Morton Brooks ging vor ihnen auf und ab wie ein Filmregisseur, der seinen Akteuren eine Szene erläutert. «Ja, also das war so. Die Sitzung sollte um zehn anfangen, aber viele waren schon um neun da, weil sie ja ihre Kinder zur Schule bringen mußten. Nun sollte man denken, daß sie’s um zehn gar nicht erwarten können, daß es losgeht. Aber nein, die Leute stehen rum und machen ein großes Geseire. Es wird zehn, Viertel nach zehn, halb elf, elf. Keiner wird hibbelig, keiner mosert.

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