Eines Tages geht der Rabbi
hochgewachsener, hagerer Mann mit runden Schultern, graumeliertem Wuschelhaar und buschigen Augenbrauen. Mit seinem schlotternden Anzug und der Nickelbrille sah er aus wie ein pensionierter Lehrer, der sich anschickt, eine Rede vor dem Seniorenklub zu halten. In Wirklichkeit war er ein erfolgreicher Bauunternehmer um die Fünfzig und in der Stadt sehr beliebt.
Er schlug mit dem Hämmerchen aufs Rednerpult. «Darf ich um Ruhe bitten, meine Damen und Herren. Ich werde jetzt die Kandidaten hereinrufen und sie bitten, auf den Stühlen hinter mir Platz zu nehmen, so daß Sie sie gut im Blick haben.» Er machte die Tür auf und verkündete förmlich: «Meine Damen und Herren – die Kandidaten.»
Da kamen sie – einige schüchtern, einige betont Selbstbewußtsein hervorkehrend, die einen lächelnd, die anderen nachdenklich, aber alle bemüht, sich von der besten Seite zu zeigen und damit Stimmen zu sammeln. Sie hatten sich offenbar nebenan der Reihe nach aufgestellt, denn sie kamen jetzt im Gänsemarsch herein, der erste nahm den Stuhl ganz rechts, die übrigen schlossen auf.
Als sie alle saßen, fuhr Bottomley fort: «Bedauerlicherweise hat uns keiner der Kandidaten für die Bundesstaatsämter – dem des Gouverneurs, seines Stellvertreters und des Justizministers – die Ehre gegeben, aber sie haben Vertreter geschickt, die für sie sprechen werden. Wir wollen diesen Teil der Veranstaltung so kurz wie möglich halten, damit Ihnen viel Zeit bleibt, die Kandidaten in Einzelgesprächen näher kennenzulernen. Ich möchte deshalb die Sprecher bitten, ihre Redezeit auf etwa vier Minuten zu beschränken. Fünfzehn mal vier macht sechzig Minuten, also genau eine Stunde. Das ist wohl angemessen.» Er wandte sich an die Kandidaten. «Ich habe nicht vor, mit einer Stoppuhr in der Hand zu arbeiten und Ihnen mitten im Satz das Wort abzuschneiden, aber wenn ich aufstehe und mich neben Sie stelle, bedeutet das, daß Ihre Zeit abgelaufen ist. Alles klar? Gut, dann fangen wir mit den Staatsämtern an. Meine Damen und Herren, der erste Sprecher ist –» er sah auf einen Zettel – «Charles Kimborough. Mr. Kimborough, bitte.»
Kimborough war ein Mann in mittleren Jahren, der lächelnd und selbstsicher auftrat. Vielleicht war seine Gelassenheit sogar echt, denn der von ihm vertretene demokratische Gouverneur hatte bei diesem vorwiegend republikanischen Publikum wenig zu gewinnen oder zu verlieren. «Ich möchte Ihnen die besten Grüße des Gouverneurs überbringen, der es sehr bedauert, daß er wegen anderweitiger Verpflichtungen nicht selbst kommen konnte. Meine Bitte heute abend an Sie geht dahin, ihn in seiner Kandidatur für das hohe Amt, das er zur Zeit innehat und in dem er seine Fähigkeit und sein Engagement unter Beweis gestellt hat, zu unterstützen …»
In dieser Tonart ging es die ihm zugebilligten vier Minuten lang weiter. Als Bottomley neben ihn trat, schien er überrascht, kam aber bereitwillig zum Ende. «Ich könnte den ganzen Abend lang die Leistungen aufzählen, auf die Ihr Gouverneur nach einer vierjährigen Amtszeit zurückblicken kann, aber da Herbert schon mahnt, möchte ich Ihnen abschließend nur noch für Ihre Aufmerksamkeit und Ihre freundliche Aufnahme danken.»
Die nächsten sechs Kandidaten waren ebenfalls Vertreter für Bewerber um republikanische und demokratische Staatsämter. Alle verwandten ihre Redezeit ausschließlich darauf, die Taten der Kandidaten zu preisen, für die sie sprachen. Es war furchtbar langweilig, und etliche Zuhörer standen auf und machten sich davon. Laura Magnuson wäre wahrscheinlich auch gegangen, wenn nicht John Scofield, der mit den anderen auf dem Podium saß, ihr Interesse und ihre Neugier geweckt hätte – nicht nur, weil er jung war und gut aussah, sondern weil er den Mut – oder die Tollkühnheit – besaß, gegen Josiah Bradley, den derzeitigen Amtsinhaber, anzutreten. Seine Konkurrenten waren erst ins Rennen gegangen, nachdem Bradley bekanntgegeben hatte, daß er sich nicht mehr zur Wiederwahl stellen würde. Laura überlegte, ob Scofield das wohl bei seiner Rede besonders herausstellen würde.
Bottomley trat vor und ruderte mit den Armen, um die Zuhörer bei der Stange zu halten. «So, Leute, mit den Bewerbern um die Staatsämter sind wir fertig. Wir kommen jetzt zu dem Teil des Programms, das euch besonders interessieren dürfte – Vorstellung der Kandidaten, die sich um Plätze im Senat und im Abgeordnetenhaus bewerben. Erfreulicherweise hatte keiner von
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