Einfach bezaubernd
»Ich könnte es so einrichten, dass Sie außerhalb der Abteilung arbeiten und Ihr eigener Boss sind. Ich habe so das Gefühl, dass Sie mit Vorgesetzten nicht gut auskommen.«
»Vorgesetzte sind nie gut mit mir ausgekommen«, erwiderte Mare und starrte einen Augenblick lang ins Leere, um diese neue Möglichkeit zu überdenken. »New York. Hm. Das könnte gut werden. Die Freiheitsstatue. Die habe ich immer als Geistesverwandte empfunden. Vielleicht …« Wieder versuchte die staubige toskanische Sonne, hereinzufluten, aber sie wischte sie
beiseite. Hier war ihr wirkliches Leben, das sie leben musste. Und bezahlen.
»Ah, hm, gut, gut«, machte Jude, ganz offensichtlich verwirrt. Er polierte seine Krawattennadel einen Augenblick lang mit einem Finger und räusperte sich dann. »Wir haben Freitag, ich brauche also ein bisschen Zeit, um mich darum zu kümmern. Ich muss ein paar Anrufe tätigen. Darf ich dabei sagen, dass Sie an einem Umzug nach New York interessiert wären?«
Mare hätte beinahe »Ja« gesagt, doch dann fielen ihr Dee und Lizzie ein. Würde New York ihnen gefallen? Kunstmuseen für Dee, die berühmte Bücherei von New York für Lizzie, Anonymität großgeschrieben, ein guter Ort, um sich vor Xan zu verstecken. Das könnte funktionieren. »Ich muss erst meine Schwestern fragen.«
»Um Erlaubnis? Sie sind doch wohl alt genug, um das selbst zu entscheiden.«
»Ob sie dorthin umziehen wollen«, erklärte Mare. »Wir bleiben zusammen.« – Wir müssen. Wir besitzen ungewöhnliche, übernatürliche Kräfte, Jude. Lizzie könnte Sie in eine Kröte verwandeln, bevor Sie auch nur Ihre Rolex polieren . – »Aber ich bin wirklich interessiert. Tätigen Sie nur Ihre Anrufe. Und sagen Sie William, dass er immer noch der Geschäftsführer ist.«
»Gut, Mare«, erwiderte Jude und machte sich auf den Weg zum Büro.
Mare wandte sich um und winkte Dreama mit gekrümmtem Zeigefinger zu sich.
»Was?«, fragte Dreama, als sie zögernd näher kam.
»Du hast also Jude von William und dem Seil erzählt«, stellte Mare fest.
Dreama errötete wieder. Sie legte die Hände auf den Rücken und streckte das Kinn vor und versuchte, unschuldig zu wirken, doch es gelang ihr nicht. »Er fragte mich nach allem Möglichen
und ich antwortete ihm eben. Es rutschte mir so raus. Ach, Mare, er ist so supertoll, findest du nicht auch, dass man ihm einfach alles sagen muss?«
»Nein«, entgegnete Mare. »Und du tust das auch nicht. Wegen dir wäre William beinahe gefeuert worden.«
»Ja, aber dann könntest du doch Geschäftsführer sein«, meinte Dreama.
»Du hast dich also ausführlich mit Jude unterhalten«, stellte Mare ernst fest.
Dreama beugte sich näher zu ihr. »Du wärst viel besser als Geschäftsführer, Mare. Wirklich. William hasst es, Geschäftsführer zu sein.«
»Ich auch. Jetzt hör mir mal zu.« Mare fixierte sie mit stahlhartem Blick. »Von jetzt ab sagst du Jude nichts mehr. Kein Sterbenswörtchen. Wir sind wir, und die sind die. Kapiert?«
Verärgert entgegnete Dreama: »Und wie willst du dann je eine Beförderung kriegen? Du hast doch gesagt, dass du Königin des Value Video!! werden willst. Na, und dazu musst du doch befördert …«
»Ich hab’s mir anders überlegt«, fiel Mare ihr ins Wort, ebenfalls ärgerlich, denn sie wusste selbst nicht mehr, was zum Teufel sie da eigentlich tat. »Königinnen des Universums lassen sich nicht in Alltagstrott pressen, Dreama. Sie bleiben fließend und unvorhersehbar …«
Die Türglocke bimmelte, und Mare wandte sich mit dem üblichen Lächeln um und hielt dann die Luft an, als hätte sie einen Schlag in den Solarplexus erhalten. Da stand er, groß, dunkelhaarig und blauäugig wie eh und je, von toskanischen Sonnenstrahlen umkränzt. Mare, die ihn für eine Halluzination hielt, wollte schon mit ihrem Großhirn Streit beginnen, da stieß Dreama ein »Oh mein Gott« aus, und Mare hob abwehrend die Hand und fegte dabei den Stapel DVDs über den ganzen sauber aufgeräumten Ladentisch.
»Hallo, Mare«, sagte er mit den Händen in den Taschen und sah ziemlich genauso aus wie vor fünf Jahren, damals, als sie ihn so sehr liebte, dass die Welt um sie herum schwankte, wenn sie ihn nur ansah. »Ja, ich bin wieder da.« Er wartete eine Minute, während sie atemlos, sprachlos und reglos da stand, und dann fragte er: »Sagst du auch irgendwas?«
»Hallo, Crash«, sagte Mare, und sie war wütend auf sich selbst, weil ihr fast die Stimme brach. Sie ging auf ihn zu, hinein ins
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