Einfach ein gutes Leben
Das Verschwinden liegt vielleicht auch dem Neglect zugrunde, den die Selbstversorger im Oderbruch ihren eigenen Kleinwirtschaften gegenüber zeigen. Erst als Kenneth Anders und sein Kollege sie darauf ansprachen, wurde ihnen wieder bewusst, dass sie überhaupt Selbstversorgung betreiben. Anders jedenfalls ist zu der Ansicht gekommen, dass die »kleinen« ökonomischen Formen sehr wohl vital sind, allerdings unter der Blindheit der meisten Zeitgenossen leiden. »Wir sind Analphabeten der Selbstorganisation«, schreibt er. »Strategien der Selbstversorgung werden in Deutschland meist als historisch überlebte Lebensform oder als romantische Nische wahrgenommen« 35 und dementsprechend wird ihnen jegliche ökonomische Bedeutung abgesprochen.
Offensichtlich war die sogenannte »kapitalistische Landnahme«, die schon Rosa Luxemburg für den Kolonialismus beschrieben hat, in dieser Hinsicht sehr effektiv. Sie hat nicht nur dafür gesorgt, dass kapitalistische Wirtschaftsformen immer weitere Wirtschaftsweisen überformt und immer mehr Lebensbereiche »kolonisiert« haben. Sie war offenbar ebenso erfolgreich darin, die Wahrnehmung der Menschen in den Industrieländern im Laufe der Jahrzehnte so zu prägen, dass wir »Wirtschaft« immer zuerst mit »Marktwirtschaft« gleichsetzen – allenfalls noch mit »Sozialismus«, kaum aber mit »Subsistenz«. Die Landnahme hat die Subsistenzproduktion nicht getilgt, sie hat sie nur unsichtbar gemacht. Sie musste sie unsichtbar machen, andernfalls wäre sie kaum so erfolgreich gewesen. So zumindest argumentieren Maria Mies und auch Christa Müller. Wir überschätzen das Gewicht von Akkumulation, Geld, Konsum, freien Marktkräften und degradieren jegliche ökonomische Tätigkeit, die nicht in das kapitalistische Schema passt. Müller kritisiert dieses Ungleichgewicht:
»Man kann es auch ein Kolonisierungsverhältnis nennen. Es geht immer darum, das ›andere‹ unsichtbar zu machen. Kapitalistisches Wirtschaften geht davon aus, dass Natur nichts kostet, ebenso die Arbeitskraft möglichst vieler Menschen – Frauen, Bauern in der Dritten Welt werden alle behandelt, als wären sie Natur.«
Maria Mies hat das Verhältnis zwischen der kapitalistischen Ökonomie der Industriegesellschaft und der subsistenzorientierten Ökonomie in den eigenen Ländern und im Rest der Welt als Eisberg beschrieben, von dem nur ein kleiner Teil über der Wasseroberfläche zu sehen ist: Kapital und Lohnarbeit. Unter der Oberfläche befindet sich aber der größte Teil der Wirtschaft, der unsichtbar bleibt: die von Müller oben benannte Frauenarbeit, die Landwirtschaft in den Ländern der »Dritten Welt«, aber auch die ebenso ohne einen Ausgleich als »freies Gut« vernutzte Natur. Der ganze unterseeische Teil ist die Subsistenzproduktion. 36
Das Spiel ist falsch und immer mehr Menschen ahnen das. Die Quintessenz des Ganzen ist nämlich: Menschen haben eine Reihe von grundlegenden Bedürfnissen, einige davon sind Bedürfnisse nach materieller Versorgung. Die kapitalistisch-marktwirtschaftliche Ökonomie in den modernen Industriegesellschaften tut so, als gäbe es einige wenige streng einzugrenzende Arten von Bedürfnissen, die Wirtschaft zu stillen hätte, dann folgten die anderen automatisch nach. Demnach wären wir in Deutschland seit 200 Jahren auf dem geradesten Weg ins gute Leben für alle. Dem widersprechen die Fakten, hierzulande und anderswo. Wir können unsere Bedürfnisse nicht zur Gänze befriedigen.
Die Selbstversorger votieren deshalb für einen anderen Weg zum guten Leben, in der Tat für ein anderes gutes Leben. Sie stimmen nicht mit den Füßen ab. Sie bleiben hier, aber entziehen sich, so weit es ihnen jeweils möglich ist, dem Konsum und den geldorientierten Märkten. Manche bleiben den schon bewährten Formen treu und gründen eine Hofwirtschaft. Um überraschende Ideen sind die neuen Selbstversorger aber nie verlegen. Immer neue Formen von tätiger Abkehr entstehen.
Eine der brandneuen ist »Mundraub«. Katharina und Kai waren es leid, überall herrenloses Obst herumhängen zu sehen, das niemand pflückt. Sie hatten eine Idee, erzählten ein paar Leuten davon und starteten im August 2009 den ersten »Mundraubzug«: Rund um Berlin suchten und fanden sie Obst tragende Bäume und Büsche, erkundigten sich nach den Besitzern und danach, ob diese das Obst freigeben würden, dann kartografierten sie ihre Fundorte. Die Karte ist im Internet für jeden einzusehen und wird ständig aktualisiert.
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