Einfach ein gutes Leben
37 Inzwischen ist ganz Deutschland bunt gesprenkelt mit den Piktogrammen für Äpfel, Kirschen, Birnen, Walnüsse, Mirabellen, Orangen, Pflaumen und Zwetschgen. Die Freiobstkarte reicht von Marokko im Süden über Spanien, Italien, Österreich bis nach Schweden. Mundraub wollen nicht nur leckeres Obst essen und ihre Mitmenschen zum gleichen Genuss animieren, sie wollen Ressourcen finden und andere an der Suche beteiligen. Mit ihrer Strategie bringen sie zum einen die Standorte der Ressourcen ins Bewusstsein, zum anderen aber auch die Idee, dass wir nicht allein von kaufbaren Lebensmitteln leben müssen. Das macht sie zu echten Selbstversorgern.
Kenneth Anders im Oderbruch hätte wohl seine Freude an Mundraub. Er hat sich der Selbstorganisation verschrieben, weil er von den Selbstversorgern lernen will, wo noch Spielräume zu finden sind und wie man diese nutzt. Er schätzt den Erfindungsreichtum und die Unabhängigkeit dieser Leute. »Ich glaube«, sagt er, »dass jeder in seinem Leben die Möglichkeit hat, den Anteil an Selbstorganisation zu vergrößern, dass es für jeden etwas Schönes ist und dass es ein größeres Maß an Autonomie bringt.« Wenn man sich die neuen Selbstversorger anschaut, dann muss man das nicht mehr glauben – man sieht, dass es eine Tatsache ist.
3 SELBER MACHEN
Richard Christian lächelt etwas verlegen, als er die beiden kleinen, zylinderförmigen Metallteile präsentiert. »Dieses hier ist noch nicht sogut. Es funktioniert nicht. Aber das andere geht, das nehme ich.« Im gedämpften Licht der »HEi-Tec-Werkstatt« in der Münchener Wörthstraße ist für das Laienauge kaum ein Unterschied zwischen den Teilen zu erkennen, beide Zylinder sehen sauber aus, stabil, nach vertrauenswürdiger Mechanik. »Jetzt weiß ich, wie es geht, eine Nabe zu machen. Das Nächste wird sein, sie in das Rad einzubauen.« Rad? »Ich baue Hochräder. Gerade verbessere ich noch einige Teile, aber jetzt sehe ich, wie alles funktioniert, und kann anfangen, das ganze Rad zusammenzusetzen.«
Richard ist selbst Laie, hatte vor einiger Zeit noch keinen Schimmer von den tieferen mechanischen Geheimnissen von Nabe und Ritzel, wohl aber eine Leidenschaft für alte Hochräder. Er ist aus England nach München gekommen, um Philosophie zu studieren, schreibt inzwischen seine Doktorarbeit. Dann hat er hier eine Möglichkeit entdeckt, selbst solche Räder zu bauen, obwohl er nie einen entsprechenden Beruf gelernt hat. Er hat sich sofort mit Begeisterung an seine zweite »Meisterarbeit« begeben. Philosophie und Metallarbeit – das geht gut zusammen. »Es ist Verstehen: Ich verstehe, wie die Mechanik funktioniert, sehe, wie Metalle sich benehmen, bekomme ein Gefühl für die Werkzeuge und was ich mit ihnen anfangen kann. Am Anfang wollte ich Fahrräder bauen, weilich es lustig fand, jetzt geht es mir um die Probleme beim Bauen, um Ingenieurprobleme. Ich stoße immer wieder auf Schwierigkeiten, komme nicht weiter. Irgendwann knacke ich sie aber, habe wieder etwas Neues gelernt, dann weiß ich, wie man dieses oder jenes Teil baut. Und das mache ich dann. Mein erstes Fahrrad ist bald fertig.«
Er lächelt nicht mehr verlegen, sondern wie in gespannter Erwartung auf sein abgeschlossenes Werk, sein erstes Hochrad, sein Gesellenstück, wenn man so will. Er könnte jetzt sicher noch stundenlang weiter darüber reden, wichtig ist ihm aber zuerst, den anderen Bezug zur Welt zu unterstreichen, den er durch die Arbeit an seinem Rad bekommen hat: Man greift ein, sagt er, sieht, wie die Abläufe sind. Begreifen durch Eingreifen – lernen durch Praxis. »Es geht nicht um Fahrräder«, sagt Richard, »es geht um das Bauen.«
Umso mehr bedauert er, dass handwerkliches Können in unserer Zeit so abgewertet worden ist. Das ist es in der Tat. Immer mehr Menschen verrichten ihre Erwerbsarbeit nicht mehr mit den Händen, sondern mit den Fingern: auf einer Tastatur, die im Büro, in der Werkshalle oder zu Hause steht und in jedem Fall im Sitzen bedient werden kann. Aus Handwerk ist Fingerwerk geworden, aus konzentriertem Schaffen mit und an einem Material ein bewegungsloses Ausgerichtetsein auf einen Bildschirm. Nicht nur in der Arbeit, auch in der Freizeit haben wir alle ein Gutteil unserer Zeit statt mit Greifbarem mit Dargestelltem zu tun, mit Vorgestelltem, der Möglichkeit nach Vorhandenem, dem wir auf Bildschirmen und Papier ein Abbild schaffen. Etwas selbst in die Hand zu nehmen sind wir nicht mehr gewohnt, wir kennen es schlicht aus
Weitere Kostenlose Bücher