Einfach göttlich
beschaffen sein mochten – in der Zitadelle fand jeder seinen Platz.
Wenn man dazu neigte, die falschen Fragen zu stellen oder gerechte Kriege zu verlieren, so mochte sich jener Platz bei den Öfen und Kesseln der Läuterung befinden, oder in den Quisitionsgruben der Gerechtigkeit.
Ein Platz für jeden. Und jeder an seinem Platz.
D ie grelle Sonne brannte auf den Tempelgarten herab.
Der Große Gott Om versuchte, im Schatten einer Melonenrebe zu bleiben. In der Nähe dieser Mauern und Gebetstürme war er vermutlich sicher, aber man konnte nie wissen. Einmal hatte er Glück gehabt, aber beim zweiten Mal ging die Sache vielleicht anders aus.
Als Gott hat man bedauerlicherweise niemanden, zu dem man beten kann.
Zielstrebig kroch er los und näherte sich dem Alten am Misthaufen. Er verharrte schließlich, als er bis auf Hörweite heran war.
Und dann sprach er folgende Worte: »He, du!«
Er bekam keine Antwort. Nichts deutete darauf hin, daß ihn jemand gehört hatte.
Om verlor die Geduld, verwandelte Lu-Tze in einen erbärmlichen Wurm und verdammte ihn dazu, für immer durch die tiefsten Jauchegruben der Hölle zu irren. Noch zorniger wurde der Große Gott, als Lu-Tze auch weiterhin unbekümmert den Misthaufen wendete.
»Mögen die Teufel der Unendlichkeit deine Knochen mit Schwefel füllen!« heulte er.
Auch diesmal zeigte der Alte keine Reaktion.
»Tauber Blödmann«, grummelte Om.
M öglicherweise gab es jemanden, der alles über die Zitadelle wußte. Manchen Leuten gefällt es, Wissen zu sammeln, wobei echtes Interesse daran eine untergeordnete Rolle spielt: Sie gehen auf die gleiche Weise vor wie Elstern, die sich von glitzernden Dingen angezogen fühlen, oder wie Köcherfliegen, die kleine Holzsplitter und Steinchen unwiderstehlich finden. Abgesehen davon gibt es immer jemanden, der sich um jene Dinge kümmert, die erledigt werden müssen. Meistens handelt es sich dabei um Dinge, mit denen andere nichts zu tun haben möchten oder die sie ganz und gar ignorieren.
Die dritte Sache, die den Leuten an Vorbis auffiel, war seine Größe. Er maß mehr als einen Meter achtzig und verdiente es, als dürr bezeichnet zu werden. Man vergleiche ihn mit dem Modell einer ganz normalen Person, die ein Kind aus Ton geformt und dann in die Länge gerollt hat.
Die zweite Sache, die den Leuten an Vorbis auffiel, waren seine Augen. Die Wurzeln seiner Ahnen reichten bis zu einem Wüstenstamm, dessen Angehörige von der Evolution dunkle Augen bekommen hatten – nicht nur dunkle Pupillen, sondern auch dunkle Augäpfel. Deshalb konnte man kaum je sagen, wohin er gerade blickte. Er schien eine Art Sonnenbrille unter der Haut zu tragen.
Doch die erste Sache, die den Leuten an Vorbis auffiel, war der Kopf.
Er hatte eine Glatze. Die meisten Mitglieder der Kirche ließen sich sofort nach der Priesterweihe lange Mähnen und Bärte wachsen, in denen sich Ziegen verirren konnten. Vorbis hingegen rasierte sich gründlich, und zwar nicht nur an Kinn und Wangen. Sein ganzer Schädel glänzte geradezu. Der Mangel an Haar schien ihm zusätzliche Macht zu geben. Er drohte nicht. Er drohte nie. Er weckte nur in allen anderen das Gefühl, daß man besser einen Abstand von mehreren Metern zu ihm wahrte. Wer sich näher an ihn heranwagte, mußte mit profunder Unsicherheit rechnen. Fünfzig Jahre älteren Männern bereitete es ausgeprägtes Unbehagen, ihn anzusprechen und dadurch beim Nachdenken zu stören.
Niemand wußte, worüber Vorbis nachdachte, und niemand wagte es, ihn danach zu fragen. Der Hauptgrund dafür war der Umstand, daß Vorbis die Quisition leitete. Anders ausgedrückt: Er kümmerte sich um jene Dinge, mit denen andere Leute nichts zu tun haben wollten.
Jemanden wie Vorbis fragte man deshalb nicht danach, woran er gerade dachte, weil er sich sonst vielleicht umdrehte und antwortete: »An dich.«
In der Quisition gab es kein höheres Amt als das eines Diakons. Diese Regel war inzwischen mehrere hundert Jahre alt und sollte verhindern, daß Quisitoren unerquicklichen Ehrgeiz 2 entwickelten. Doch von Vorbis hieß es: Jemand wie er hätte inzwischen Erzpriester oder gar Iam sein können.
Der Quisitionschef hielt sich nicht mit solchen Banalitäten auf. Er kannte sein Schicksal. Der Große Gott hatte es ihm doch verkündet, oder?
» N a bitte«, sagte Bruder Nhumrod und klopfte Brutha auf die Schulter. »Jetzt ist bestimmt alles klarer für dich.«
Brutha ahnte, von ihm würde eine Antwort erwartet.
»Ja,
Weitere Kostenlose Bücher