Einfach göttlich
Bibliothek zu besuchen. Es war die größte nichtmagische Büchersammlung auf der Scheibenwelt. Die Hälfte der ephebianischen Philosophen schien nun dort zu leben, und Omnien brachte sogar den einen oder anderen eigenen Denker hervor. Selbst Priester nutzten die Möglichkeit, sich in der Bibliothek umzusehen, denn sie enthielt auch religiöse Bücher: insgesamt eintausendzweihundertdreiundachtzig – jedes von ihnen angeblich das Buch. Es erwies sich als faszinierend, sie alle zusammen zu sehen. Wie Didaktylos mehrmals betont hatte: Die Welt war ein komischer Ort, der zum Lachen reizte.
Während Brutha frühstückte, las ihm ein Subdiakon aus dem Terminkalender vor. Die Aufgaben des Assistenten bestanden nicht nur darin, Brutha an wichtige Verabredungen zu erinnern; auf eine taktvolle Weise sorgte er gleichzeitig dafür, daß der alte Zönobiarch die Unterhose an der richtigen Stelle trug.
Heute erlaubte es sich der Subdiakon, einen schüchternen Glückwunsch auszusprechen.
»Mhmm?« fragte Brutha, und Haferschleim tropfte ihm vom Löffel.
»Hundert Jahre«, sagte der Subdiakon. »Seit du durch die Wüste gewandert bist, Herr.«
»Tatsächlich? Ich dachte, es seien vielleicht, äh, fünfzig? Meine Güte, es können doch nicht mehr sein als sechzig, oder?«
»Hundert, Herr. Wir haben in den alten Unterlagen nachgesehen.«
»Potzblitz. Hundert Jahre? Einhundert Jahre?« Brutha ließ ganz langsam den Löffel sinken und starrte an die schlichte weiße Wand auf der anderen Seite des Zimmers. Der Subdiakon drehte den Kopf, um festzustellen, was der Zönobiarch beobachtete, doch er sah nur eine Mauer.
»Hundert Jahre«, murmelte Brutha. »Hmm. Meine Güte. Hab’s glatt vergessen.« Er lachte. »Ich habe es vergessen. Hundert Jahre, wie? Aber hier und heute…«
Der Subdiakon drehte den Kopf erneut.
»Zönobiarch?«
Er trat etwas näher und erblaßte.
»Herr?«
Er lief los, um Hilfe zu holen.
Brutha neigte sich fast anmutig nach vorn, und sein Gesicht klatschte auf den Tisch. Der Napf fiel um, und Haferbrei tropfte zu Boden.
Und dann stand Brutha auf, ohne seinem Leichnam Beachtung zu schenken.
»Ha!« sagte er. »Ich habe gar nicht mit dir gerechnet.«
Tod lehnte an der Wand.
DA KANNST DU VON GLÜCK SAGEN.
»Es gibt noch so viel zu tun…«
JA. DAS GIBT ES IMMER.
Brutha folgte der großen Gestalt durch die Wand. Auf der anderen Seite befand sich nicht etwa der Abort – offenbar gehörte er zur Welt der Lebenden –, sondern…
… schwarzer Sand.
Helles, kristallines Licht glänzte, und am dunklen Himmel leuchteten Sterne.
»Ah«, sagte Brutha. »Nach dem Tod findet man sich tatsächlich in einer Wüste wieder. Gilt das für alle?«
WER WEISS?
»Und am Ende der Wüste?«
DAS URTEIL.
Brutha dachte darüber nach.
»An welchem Ende?«
Tod lächelte und trat beiseite.
Was Brutha bisher für einen Felsen im Sand gehalten hatte, stellte sich nun als zusammengekauerte Gestalt heraus. Sie hatte die Arme um die Knie geschlungen und schien vor Angst wie gelähmt zu sein.
Er riß die Augen auf.
»Vorbis?«
Er sah Tod an.
»Aber Vorbis starb vor hundert Jahren!«
JA. ER HÄTTE DIE WÜSTE GANZ ALLEIN DURCHQUEREN MÜSSEN. NUR BEGLEITET VON DEN EIGENEN GEDANKEN. ER WAGTE ES NICHT.
»Seit hundert Jahren ist er hier?«
DAS KOMMT DARAUF AN. HIER IST DIE ZEIT ANDERS BESCHAFFEN. SIE HAT… PERSÖNLICHE EIGENSCHAFTEN.
»Du meinst, hundert Jahre können hier wie wenige Sekunden sein?«
ODER WIE EINE EWIGKEIT.
Schwarze Augen blickten flehentlich zu Brutha auf, der ganz automatisch die Hand ausstreckte… und dann zögerte.
ER WAR EIN MÖRDER, sagte Tod. UND ER HAT MÖRDER GESCHAFFEN. ER FOLTERTE. ER WAR GRAUSAM, KALT UND ERBARMUNGSLOS.
»Ja, ich weiß«, erwiderte Brutha. »Du hast sein Wesen ziemlich genau beschrieben.« Vorbis veränderte Menschen. Manchmal verwandelte er sie in Tote, aber irgendeine Art von Veränderung gelang ihm immer. Darin bestand sein Triumph.
Brutha seufzte.
»Aber ich bin ich«, sagte er.
Vorbis stand unsicher auf und folgte Brutha durch die Wüste.
Tod sah ihnen beiden nach.
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