Einfach losfahren
zehn.
Schon am Vortag war ich in Aufruhr wegen der bevorstehenden Abfahrt. Es ging los. Es ging zurück nach Italien. Dorthin, wo ich alles zurückgelassen hatte. Gut neun Monate hatte ich auf den Kapverden verbracht. Ich war jetzt ein völlig anderer als bei meiner Ankunft. Die neun Monate hier waren wie eine Art Schwangerschaft gewesen. Ich hatte mich selbst geboren. Mich ans Licht der Welt geholt. Teilweise. Ich will nicht behaupten, ich sei neun Monate fort gewesen und nach meiner Rückkehr ging’s mir nur noch gut und ich war glücklich. Das nicht. Aber ich habe gelernt, dass das Reisen Erfahrungen vermittelt, von denen ich gedacht hatte, nur die Zeit könne sie bringen. Reisen beschleunigt den Prozess, könnte man sagen. Dank dieser Reise habe ich wichtige Einsichten über mich erlangt, doch vor allem hat sie meine Einstellung gegenüber dem Leben verändert, und nun lehrt mich das Leben mit jedem Tag etwas, woran ich wachse. Jeder besteht aus vielen Selbst, nicht nur aus einem. Wir sind sozusagen eine Hausgemeinschaft aus mehreren Persönlichkeiten. Da ist der Tolerante, der Empfindliche, der Cholerische, der Schweigsame und das Schnattermaul. Das Ich, das diese Erfahrung gemacht hatte, jenes der Begegnung mit Sophie, mochte ich am liebsten. Bei diesem Lieblings-Ich fühlte ich mich am wohlsten, in Harmonie mit allem, und aus diesem Grund habe ich dort die Schaltzentrale angesiedelt, ihr quasi die Befehlsgewalt übertragen. Doch auch jetzt noch begegne ich ab und zu Leuten, die primitivere und weniger entwickelte Persönlichkeiten in mir hervorzerren, ein Erbe der Vergangenheit, das dann das Kommando übernimmt und mich in einen Menschen verwandelt, den ich im ersten Moment nicht beherrsche, und hinterher schäme ich mich dann dafür, dass ich mich so aufgeführt habe. Ich arbeite noch daran, und ich glaube, ich bin noch lange nicht fertig. Aber dieses neue Ich, dem ich begegnet bin, das ich geboren habe, gefällt mir alles in allem. Zu einem Gutteil habe ich das Sophie zu verdanken. Indem ich ihrem Beispiel, ihrer Art zu leben folgte, habe ich einen Weg beschritten, auf dem ich mir als Freund begegnet bin. Ich bin einem Ich begegnet, das mich liebt, dem ich sympathisch bin und das in der Lage ist, mir zu helfen. Sophie war es, die mir die neuen Augen geschenkt hat, durch die ich nun die Welt betrachte. Dank ihrer Sensibilität bin ich an wunderbaren Orten gewesen und habe Regionen besucht, die ich ohne sie nie gesehen hätte. Mit ihr reden, mich völlig öffnen, ihr zuhören, sie beobachten. Ohne sie hätte sich das Leben nie so offenbart. Ich habe ihr vertraut und mich ihr vollkommen anvertraut, ihr und ihrer Anmut, ihrer Bewusstheit, ihrer sanften Art. Dank ihrer Lebensfreude habe ich gelernt, mir zu verzeihen, und vor allem, mich selbst zu lieben und mich schön zu finden. Bevor ich sie traf, hatte mich niemand zum Leben erzogen. Ich war nicht mal imstande, die Schönheit der Dinge zu entdecken und zu sehen, und dies zu lernen hat mich gerettet. Es war die Schönheit, die mich gerettet hat.
Aber es ging nicht einfach darum, schöner zu werden, sondern darum, das Hinschauen zu lernen. Führt man einen Menschen, der nichts von Kunst versteht, vor ein Picasso-Bild, so sieht er wahrscheinlich nur Monster, schiefe Proportionen, Gekritzel. Als wäre es die Zeichnung eines untalentierten Kindes. Ein Gemälde von Botticelli würde er allemal vorziehen. Doch wer sich in Kunst auskennt und fähig ist, sie zu betrachten, der weiß, dass Picasso eines der größten Genies des 20. Jahrhunderts ist. Man muss lernen, die Dinge zu sehen.
Indem Sophie mir das beigebracht hat, hat sie meine Beziehung zu den anderen völlig umgekrempelt. Ich habe begriffen, dass ich Wünsche auch verwirklichen konnte, ich habe gelernt, respektvoll mit mir umzugehen, mich als wertvoll zu betrachten. Ich habe gelernt zu sehen. Und sie hat mir beigebracht, dass es großer Disziplin bedarf, um ein freier Geist zu sein. An dem Morgen, als wir abreisten, Sophie, Angelica und ich, wirkten wir wie eine Familie. Ja, wir waren eine.
Die Reise schien uns ausgesprochen kurz. Angelica hat praktisch die ganze Zeit geschlafen. Nur zu den Mahlzeiten wachte sie auf. Sophie und ich trugen noch dünne Kleidung. Wir hatten es nicht eilig, Pullover überzuziehen, wir wollten uns so lange wie möglich wie zu Hause fühlen, aber da die klimatisierte Luft im Flieger zu kühl war, mussten wir dann doch nacheinander auf die Toilette und uns umziehen. Sophie
Weitere Kostenlose Bücher