Eingesperrt - Jessica Daniel ermittelt (German Edition)
Adresse.«
Die Frau zuckte mit den Schultern und wies in die Richtung, aus der Jessica kam. »Ich glaube, der ist ganz hinten am Ende.«
Jessica nahm den Flyer wieder an sich, steckte ihn in ihre Tasche, bedankte sich und machte kehrt. Sie war verwirrt, schließlich hatte sie in dieser Richtung alles schon abgeklappert. Aber wahrscheinlich kannte die Frau sich besser aus, deshalb lief sie zurück und sah sich die Stände noch einmal genauer an.
Schließlich kam sie zum letzten Stand in der Reihe. Sie hielt etwas Abstand, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Die Frau hatte sich anscheinend geirrt, dieser Stand war doch gar kein Schlüsseldienst …
Und dann sah sie es.
Der Stand bot Schlüssel und Schlossmontagen an und Gravierungen von Schildern und Pokalen. Man konnte dort Batterien und verschiedene Lederwaren kaufen, aber das Hauptgeschäft dieses Stands am Gorton Market war ein anderes.
Sie hatte den Stand übersehen, weil ihr im Vorbeigehen immer nur das Schild mit der Aufschrift »Schuhreparaturen« aufgefallen war.
Nun wusste sie auch, wer Nigel Collins war.
E IN J AHR ZUVOR
Den Namen Nigel Collins abzulegen war einfach ein unglaubliches Gefühl gewesen. Der Name erinnerte ihn daran, was für ein armseliger Schwächling er gewesen war, wie die Fäuste auf ihn niedergeprasselt waren und er schließlich im Krankenhaus aufgewacht war. Die Leute dachten, er sei dumm, ein Sonderling, aber er war einfach nur ein ruhiger Mensch. Was war denn falsch daran? Er war allein auf der Welt, ohne Eltern, verdammt noch mal. Er hatte in einem Kinderheim wohnen müssen, das er hasste. Was wollten die Leute denn von ihm? Er war damals doch nur ein Kind gewesen und alle hatten auf ihm herumgehackt.
Seitdem waren einige Jahre vergangen und endlich kriegte er die Kurve. Das Wichtigste war gewesen, diesen Namen loszuwerden. Das hatte eine Weile gedauert. Als er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, hatte er keine Hoffnung, jemals sein Leben in den Griff zu bekommen. Aber als er obdachlos war, fand er endlich Freunde. Schon erstaunlich, dass diese Menschen, die man normalerweise einfach übersah, so einfallsreich waren. Manche von ihnen waren drogensüchtig, aber ihn hatte so etwas nie gereizt. Einer von seinen neuen Freunden sagte, er könne ihm eine neue Identität und Sozialversicherungsnummer beschaffen. Man konnte nicht immer alles glauben, was die Leute auf der Straße erzählten, aber dieser neue Kumpel hatte ihm tatsächlich eines Tages einen braunen Umschlag mit allen nötigen Papieren gebracht.
Er konnte allerdings nicht Auto fahren oder das Land verlassen, ohne zu riskieren, entdeckt zu werden, zumindest vorerst nicht.Unter Obdachlosen gab es aber selten etwas umsonst, so musste Nigel einen Teil seines erbettelten Geldes abgeben und ab und zu lange Finger machen, um seinen Freund zu bezahlen. In einer Notsituation lernte man schnell jede Menge neue Tricks.
Mit der neuen Identität verbesserte sich seine Lage nach und nach. Er fand eine Wohnung, ein furchtbares Loch, aber Hauptsache ein Dach über dem Kopf. Dann fand er Arbeit an einem Marktstand. Nichts Besonderes, Schuhe reparieren, Schilder gravieren und Schlüssel nachmachen. Aber der Standinhaber war wirklich nett zu ihm und brachte ihm einiges bei, damit er sich langsam selbst aus dem Geschäft zurückziehen konnte, aber immer noch Einnahmen hatte. Er fand auch so einiges über sich selbst heraus, entdeckte seine praktische Veranlagung und seine Kreativität. Ausgestattet mit neuem Namen, Wohnung und Arbeit wuchs auch endlich sein Selbstbewusstsein. Er freundete sich mit Leuten an und schuf sich ein ganz neues Leben.
Er sprach sogar Mädchen an.
Und dann traten kurz hintereinander zwei Leute in sein Leben, wie um ihn zu verhöhnen, ihn an die vergessen geglaubte Vergangenheit zu erinnern. Er erkannte sie sofort. Der Vater eines der Jungen, die sein Leben zerstört hatten, und die Mutter eines anderen. Namen waren nicht seine Stärke, aber Gesichter vergaß er nie. Er kannte sie, aber sie sahen einfach durch ihn hindurch. Was ihre Söhne angerichtet hatten, wussten sie nicht und es war ihnen sicher auch egal.
Der Mann sagte nuschelnd, bei ihm sei eingebrochen worden und er brauche neue Schlüssel. Er tat so, als wüsste er nicht, wen er vor sich hatte. Eigentlich brauchte er Namen und Adressen der Kunden nicht, aber wenn er darum bat, fragten die Leute selten warum. Deshalb ließ er sich manchmal von Mädchen Namen und Telefonnummern geben. Als der Mann
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