Eingesperrt - Jessica Daniel ermittelt (German Edition)
Morning Herald verteilten sich auf zwei mittlere Etagen in einem der Hochhäuser im Zentrum Manchesters. Redaktion und Anzeigenabteilung teilten sich eine Etage, Produktion und Finanzabteilung waren in der darüber untergebracht. Weitere Unternehmen nahmen die anderen Stockwerke ein, aber sonntags war das ganze Gebäude wie ein Geisterhaus. Mit seinem Sicherheitsausweis öffnete Garry den Hintereingang und dann den Aufzug.
Kaum war er aus dem Lift getreten, da hörte er schon von der anderen Seite des Raums her die ungewöhnlich fröhliche Stimme seines Chefs: »Garry.«
Während die wenigen Leute, die an diesem Sonntag arbeiteten, sich zu ihm umdrehten, offensichtlich von der selten guten Laune ihres Chefs überrascht, kam Tom munteren Schrittes auf ihn zu. Garry wollte an seinen Schreibtisch gehen, aber der Redakteur fing ihn ab, legte väterlich einen Arm um seine Schulter und bugsierte ihn in sein Büro.
Garry sah sich neugierig im Büro seines Chefs um. Die Aussicht aus dem Fenster war so eindrucksvoll, wie es bei einer Stadt wie Manchester eben möglich war. Der Schreibtisch, an dem Garry gewöhnlich arbeitete, bot als Aussicht nur den Hinterkopf eines Mädchens aus der Anzeigenabteilung. Allerdings sah sie von hinten besser aus als von vorn, aber trotzdem … Sein Chef wies auf einen edlen Lederdrehstuhl, bei dem sogar – im Gegensatz zu den Stühlen im Großraumbüro – der Mechanismus zur Höhenverstellung noch funktionierte. Dann bot er ihm eine Tasse Tee an.
Was zum Teufel war denn los?
Garry fand, sich von seinem Chef Tee kochen zu lassen, ging nun doch zu weit, deshalb lehnte er ab.
Er erzählte dem Redakteur, wie das Interview am Morgen gelaufen war, und wiederholte, was er am Vortag am Telefon gesagt hatte. Tom nickte die ganze Zeit hektisch, machte sich ab und zu eine Notiz und sagte immer wieder: »Gut, gut.« Garry fand, so sachlich über den brutalen Mord an einem Menschen zu reden, banalisierte die Tat irgendwie.
Er durfte den Computer seines Chefs benutzen, um den Artikel zu schreiben, und mit dem Gefühl, in einem bizarren Paralleluniversum gelandet zu sein, holte Garry seine Notizen hervor und machte sich an die Arbeit. Beim Schreiben dachte er an das Opfer. Er freute sich zwar, dass er endlich bei seinem Redakteur gut dastand, trotzdem wollte er sich sein Mitgefühl nicht nehmen lassen. Sowohl Ray Wilson als auch sein Chef schienen diesen Mord für ihre eigenen Zwecke ausnutzen zu wollen. Ray war harmlos und seine Beweggründe lächerlich, aber sein Chef war ein anderes Kaliber. Garry hoffte nur, er würde den Fall nicht allzu sehr ausschlachten. Sicher, es war eine sensationelle Story und er durfte den Artikel verfassen, aber bei aller Sensationslust wollte er nicht vergessen, dass ein Mensch sein Leben lassen musste.
Als er fertig war, ging er in den Redaktionsraum, wo er seltsame Blicke von seinen Kollegen erntete, die sich wohl fragten, womit er diesen freundlichen Empfang verdient hatte. Tom kam so schwungvoll angelaufen, dass er fast hüpfte, und nahm ihn wieder mit in sein Büro. Sein Chef setzte sich an den Computer und las, was Garry geschrieben hatte. Er nickte häufig und sagte wieder ständig: »Gut, gut.« Dann sah er Garry an. »Spitze! Eine Spitzenleistung, Junge. Einfach spitze. Muss hie und da ein bisschen aufgepeppt werden, aber wirklich gut geschrieben.«
Das Wort »aufgepeppt« machte Garry etwas nervös, aber er sagte nichts.
»Für heute sind Sie erst mal fertig«, fügte Tom hinzu. »Gönnen Sie sich ein Bier und machen Sie sich einen schönen Abend. Sie haben es verdient. Ihr Artikel erscheint heute Abend auf unserer Website und morgen steht Ihr Name auf der Titelseite.«
Er durfte
früher
Schluss machen! Garry hatte schon oft unbezahlte Überstunden gemacht, aber er war noch nie vor Dienstende nach Hause geschickt worden. Das war wirklich etwas ganz Neues!
»Morgen gibt es sicher eine Pressekonferenz. Da gehen Sie hin«, sagte Tom. »Wie wär’s, wenn Sie nachher Ihre Quelle mal anrufen? Vielleicht gibt’s ja neue Entwicklungen.«
Das hatte Garry zwar nicht vor, sagte aber, er würde es tun, nahm seine Tasche und ging schnurstracks zum Aufzug. Er beeilte sich, denn er hatte Angst, dass sein Chef es sich anders überlegte und ihn dabehielt. Außerdem wollte er den misstrauischen Blicken der Kollegen entfliehen, die sich offensichtlich wunderten, warum er plötzlich so beliebt war. Wenn sie erst die Titelseite sahen, würden sie es
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