Eingesperrt - Jessica Daniel ermittelt (German Edition)
einmal die beiden Tatorte zu besichtigen. Die Spurensicherung hatte beide bereits eingehend untersucht, aber mit wenig Erfolg. Yvonne Christensens Haus war vorn immer noch mit Brettern vernagelt, während ihr Mann, der rechtmäßige Besitzer, überlegte, was damit geschehen sollte. Ein Haus, in dem erst kürzlich ein Mord geschehen war, würde sich nicht so leicht verkaufen lassen. Jessica wollte auch Sandra Prince, die am Vortag aus dem Krankenhaus entlassen worden war, einen Besuch abstatten. Da Sandra sie auf die Spur von Wayne Lapham gebracht hatte, fiel ihr ja vielleicht noch mehr Brauchbares ein. Jessica hatte es bei ihrem Gespräch im Krankenhaus, als sie den Einbruch erwähnt hatte, so eilig gehabt wegzukommen, dass ihr vielleicht etwas entgangen war. Sie würde bestimmt den ganzen Dienstag im Gericht zubringen, deswegen wollte sie unbedingt heute noch etwas erreichen.
Unterschwellig ging es bei der Besprechung an diesem Morgen vor allem um Jessica. Viel mehr Leute als sonst hatten auf dem Flur gegrüßt. Offenbar wussten alle von dem Vorfall im Vernehmungsraum oder zumindest von der Sache mit Hunt und waren entsprechend beeindruckt. Allein sechs Kollegen hatten ihr Getränke aus dem Automaten angeboten, was auf der Wache als Gipfel der Großzügigkeit galt.
Nach der Besprechung schickte sie alle weg. Die Ermittlungen waren immer noch ein Desaster. Sie hatten keinen Verdächtigen und kannten weder Motiv noch Modus Operandi. Aber wenigstens waren alle guter Laune; und so albern es auch schien, siewusste, eine positive Einstellung konnte manchmal wahre Wunder bewirken.
Jessica sah, wie Rowlands sie mit dem Kopf zu sich winkte und eine Grimasse schnitt. Vielleicht eine etwas respektlose Art, jemanden zu einem Gespräch aufzufordern, aber es machte ihr nichts aus. Er stand am hinteren Ende des Raums, etwas abseits der anderen Beamten, die nach und nach den Raum verließen. Als sie zu ihm ging, erwartete sie nur einen lahmen Scherz über ihr Auto, Hunt oder sonst was.
»Alles klar?«, fragte sie.
»Mir ist da ein Gedanke gekommen.«
»Na ja, du bist schließlich schon achtundzwanzig Jahre alt, irgendwann musste es ja passieren.«
Rowlands lächelte matt, ging aber nicht darauf ein. »Nein, ganz im Ernst.«
»Dann lass mal hören.«
»Auf der Uni hatte ich einen Kommilitonen, der arbeitet nebenher als Zauberkünstler …«
»Ich dachte, es kommt was Ernstes.«
»Nein, ehrlich, hör zu. Ich habe ihn gefragt, wie man in ein vollkommen verriegeltes Haus hineinkommt und wieder heraus.«
»Willst du mich verarschen?«
»Aber dir fällt doch auch nichts Besseres ein.«
Jessica sah ihn empört an, musste aber zugeben, dass er recht hatte. »Und was hat er gesagt?«
»Es war etwas kompliziert. Er würde sich gern mit dir treffen.«
»Du machst wohl Witze.«
»Nein, ehrlich … war ja nur so ein Gedanke.«
»Aber ein saublöder.«
Es tat ihr sofort leid, dass sie das gesagt hatte. Der sonst so großspurige Rowlands machte ein enttäuschtes Gesicht, fasste sich aber schnell wieder. Immerhin wurde ihnen ständig eingebläut, unkonventionell zu denken. So abgedroschen das auch klang, dahinter steckte die Idee, ein Problem zuerst einmal von allen Seiten zu betrachten, anstatt es direkt anzugehen. In einer Situation wiedieser, in der sie nicht die geringste Ahnung hatten, wie die Morde begangen worden waren, konnten ungewöhnliche Ideen vielleicht zu einer Lösung führen. Außerdem wusste sie, dass andere Polizeieinheiten bei ihren Ermittlungen Hellseher einsetzten. Aus ihrer Sicht gab es keinen großen Unterschied zwischen Hellsehern und Zauberkünstlern, nur dass die Letzteren den Schwindel von vornherein zugaben.
»Dann eben nicht …«, sagte Rowlands.
»Okay, hör zu. Morgen bin ich im Gericht, aber später schauen wir uns noch einmal die beiden Tatorte an. Wenn das nichts bringt, gehen wir Mittwoch zu deinem Kumpel. Aber wenn du irgendjemandem davon erzählst, streite ich alles ab.« Es sollte auf keinen Fall der Eindruck entstehen, dass sie jetzt schon aus Verzweiflung den seltsamsten Ideen nachgab.
»Ich rufe ihn an.«
»Er ist doch kein Spinner, oder?«
»Als Student hat er mal seine Turnschuhe an seine Zimmerdecke genagelt. Dann hat er eine Webcam aufgestellt, ist in die Schuhe geschlüpft und hat übers Internet gesendet, wie er von der Decke hing.«
»Warum das denn?«
»Angeblich hatte es was mit Durchhaltevermögen zu tun. Er hat gesagt, er wollte zeigen, dass der Verstand unter Stress
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