Einmal auf der Welt. Und dann so
genommen und es selbst bis Pico Grande geschafft hatte, wie ich auch. Mag sein, dass wir es uns mit allem etwas zu einfach machten, weiß nicht. Aber so viel konnte mir die Doctora mit Gewissheit sagen: Es war niemand da, kein Mensch, dem Antonio ein Zeichen geben konnte, dass er dies nicht wolle, dass er hierbleiben wolle, und sei es nur für ein einziges Mal noch.
Es ging nicht voran. Doch dann verpasste Rosa den entscheidenden Augenblick. Sie hatte gesagt bekommen, dass sie dem Sterbenden dabei ganz heftig ins Gesicht lächeln müsse. Aber mein Onkel starb, und es konnte nicht mehr festgestellt werden, wann er gestorben war.
Alle anderen verfolgten Rosas Rettungsaktion am Rande. Jetzt standen sie um einen Toten herum. Das alles hatte sich in einem gewöhnlichen Bett abgespielt.
»Dann war es für meine Medizin zu spät. Ich merkte nur, dass Don Antonio am kommenden Mittwoch nicht zum Tee kam.«
Soweit die Geschichte der Doctora zum Sterben meines Onkels. Es war ein schöner Grabstein.
Ich gab ihr ja recht, aber auch sein Grabstein, den ich sah, der mir gefiel, ein wunderschöner Grabstein, den ich von Anfang an mit Pico Grande verbinde, war doch nur der Beweis, dass einer tot war.
Mein Urgroßonkel, der Gründer von Nueva Alemania, am Ende des Ersten Weltkriegs in Pico Grande umbenannt, lag da neben seiner Frau, einer Schweizerin, einer Ehebrecherin namens Lys, lag da neben seinen Scheinkindern und neben allen, die hier lagen. Auch mein Onkel, der denselben Namen, Familiennamen hatte, der so hieß wie ich, lag hier. Es dürften schon fünfzehn Gräber gewesen sein, die ich sah. Der Familienfriedhof, Muttersprache Deutsch, auf dem weithin sichtbaren Hügel zwischen Pampa und Anden, war im Lauf eines halben Jahrhunderts auf die Größe von fünfzehn Einzelgräbern angewachsen. Diese stattliche Zahl hat allein ein Ehebrecher ermöglicht, zusammen mit einer Ehebrecherin. Sonst wäre unser Friedhof in Patagonien leer geblieben, bis auf das Grab meines Urgroßonkels, seiner Frau, meines Onkels und seines Sohnes, der sich das Leben genommen hat im Jahr, als er so alt war wie ich. Und kurz darauf war der Onkel dazugekommen. »Um's Numluege kaschd nimme rumluege«, so hieß das zu Hause.
Und zu Hause, zitierte die gescheite Sau-Marie, Tochter des Zimmermanns - sie hieß so, weil sie in die Ferkelhändlerschwanzdynastie eingeheiratet hatte -, wenn sie an einem frischen Grab stand, immer fast auf Hochdeutsch den Lebenssatz ihres Vaters: »Man muss beim Boue ouch ans Abreiße denken!« Ja.
Für alles hatten wir einen Satz parat, selbst für das Nichts.
Ich sah es.
Lys hatte immer wieder mit diesem Tucher geschlafen. Karl Tucher war ein Wildwestrüpel, der Nord- und Südamerika nicht auseinanderhalten konnte, der in Bremerhaven aufs Schiff und in Buenos Aires vom Zwischendeck aus an Land getrieben worden war. Er kam mit demselben Schiff wie mein Urgroßonkel. Er war von ihm mitgenommen worden, ich weiß, denn schon zu Hause war er unser Knecht gewesen, er hauste in der Stallkammer, bis ihn der Urgroßonkel mitnahm, gedacht für die Schneisen im Urwald. Karl Tucher war auch ganz entfernt richtig verwandt mit mir. Was unsere Blutsverwandtschaft angeht, war ich mit dem Urgroßonkel und Karl Tucher gleich nah verwandt, ich weiß, denn Tucher war einer illegitimen Verbindung des Vaters meines Urgroßonkels, meines Ururgroßvaters, entsprungen (sagt man so?), einem Verhältnis meines Vorfahren mit einer Stallmagd, die in einer unserer Stallkammern mit Karl niederkam (sagt man so?). Karl wurde Pferdeknecht auf unserem Hof und blieb es, bis ihn der Bruder meines Urgroßvaters, mein Urgroßonkel, im Jahr '98 nach Amerika mitnahm. Über diese Verwandtschaft wurde nie gesprochen, aber Karl und der Urgroßonkel wussten, dass sie ersten Grades blutsverwandt waren, Halbbrüder, und dabei blieb es, ohne Aussicht, im selben Stammbaum zu erscheinen.
Auf dem Schiff hatte mein Onkel, der zwar nicht in der Auswandererklasse reiste, eine bettelarme Schweizerin namens Lys getroffen, die gerade der Hungersnot in ihrem unwegsamen Tal entkommen war. Erst waren sie nach Deutschland geflohen, sie und ihre beiden Schwestern, die jüngste war gerade drei Jahre alt. Der Rest der Familie ging zugrunde und verhungerte. Es war die letzte große Hungersnot in der Schweiz, von der wir nichts mehr wüssten, gäbe es die Briefe nicht, die Hungerbriefe, die sprachlosen Briefe, die zwischen den Daheimgebliebenen und den Ausgewanderten hin- und
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