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Einmal auf der Welt. Und dann so

Einmal auf der Welt. Und dann so

Titel: Einmal auf der Welt. Und dann so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Stadler
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hergingen.
    Die Schattengestalten: Mein Onkel, Urgroßonkel, hatte Mitleid mit ihnen und heiratete die älteste der drei Schwestern, noch in Buenos Aires. Es folgte eine beschwerliche Reise von mehreren Wochen, bis der Tross (es waren gut zwanzig Auswanderer mitgekommen, die sich von meinem Onkel hatten anführen lassen) die Höhe von Las Plumas und schließlich das Gelände erreichte, das sich mein Onkel in Buenos Aires ausgesucht und vom Plan weg gekauft hatte, Platz und Arbeit genug für sich und seine Leute, Arbeitslose, die damals noch nicht Arbeitslose hießen, die mit ihm im Tal eines noch namenlosen Flusses Nueva Alemania aufbauen sollten.
     
Für sie waren Tod, Heimat und meine Sprache fast dasselbe
     
    Rosa, Norma, Patricia, die ganze Verwandtschaft, alle waren vors Haus getreten, mir zu Ehren, ihrem aus einer fernen, niemals gesehenen Heimat aufgetauchten Verwandten. Das Gerücht, ich sei angekommen, man habe einen blonden Mann gesehen, der vom geistesgestörten Chico Mendez bei den Omnibussen abgefangen worden sei, war schon bis zur Estancia Las Plumas vorgedrungen. Da standen sie, um mich zu begrüßen, eine nahgerückte mythische Figur. Da stand ich, blonder als vermutet und sprachlos, die Küsse dieser Menschen erwidernd, mit ihren Wangen, Nasen und Bartstoppeln und ihrem Lächeln. Es waren wunderschöne Erscheinungen, dunkle Schönheiten, die ich schon abbildweise bewundert hatte. (Wir hatten unsere Bilder voneinander.) Jetzt, da sie vor mir standen, musste ich noch mehr an unserer tatsächlichen Verwandtschaft zweifeln. Einen ganzen kurzen patagonischen Sommer hierbleiben? Sich jedes Mal neu abschlecken lassen, wenn man sich an der Haustür begegnete oder unten im Pueblo, aus Freude an den wiedergefundenen unsichtbaren Chromosomen?
    Es gab schon ein Foto unseres Urmenschen, von dem wir alle herrührten. Unser Vorfahr, ein wohlhabender Bauer, ein Herrenbauer, war ja nur ein Emporkömmling. Ihn, einen lustigen Tiroler, hatte es aus seinem Tiroler Seitental in unser Seitental geschneit.
    Meine Ururgroßmutter, die, sagte man, von wenig gewinnendem, ja finsterem Äußeren war, wie auch das großflächige, allein von ihr übriggebliebene Foto belegt, konnte es sich aufgrund ihres Erbes (Mühlen, Felder, Wälder, Großvieh, Küchen- und Stallmägde) leisten, einen schönen Mann aus den damaligen Wahlmöglichkeiten, Verhältnissen, Teichen herauszufischen, und hätte er auch außer seinem reizvollen Äußeren, seiner schönen Oberfläche gar nichts mitgebracht. Dieser Vorfahr war auch schon eine Art Auswanderer, ein Vertriebener, den es aus den engen, verwachsenen Tiroler Tälern ins Himmelreich verschlagen hat, in das Haus meines Urururgroßvaters, in mein späteres Geburtshaus: Es war nur ein Müllersknecht, den sich meine Vorfahrin mit dem schleierhaften Gesicht erkoren hat. Diese Ehe dauerte zwar bis zu ihrem siebenten Kind, ihrem Tod, aber aus Leidenschaft war er niemals zu meiner Vormutter gekommen. Ihn trieb es zur Stallmagd, die Tucher hieß und Tucherin gerufen wurde. Die Liebe hat sich also über die illegitime, die Seitenlinie fortgesetzt.
    Schon Tucher war ein Kind der Liebe. Und wieder alle anderen, hinter dem Rücken meines Urgroßonkels erzeugten Kinder waren Liebesprodukte. Die Liebe hatte schon seinen Vater zum Betrug gezwungen. Und auch wieder den Sohn, alles Liebeserzeugnisse.
    Ich hingegen stammte aus der genealogischen Hauptlinie. Ich war ein Kind, das sich nicht auf die Liebe zurückführen konnte, war daher nichts und niemand, nur Namensträger. Oder nur etwas Halbes, denn immerhin muss meine Vorfahrin ihren Tiroler geliebt haben. Mochte er selbst auch aus Besitzgier gehandelt haben, mochte er auch aus der Gegend von Schwaz in Tirol auf meine Vormutter gestoßen sein, immerhin setzte er auch die Hauptlinie fort, die sich auf Liebe nicht zurückführen kann oder nur halb. Ich liebe dich, schwor er der Stallmagd, aber auch mein Blut färbte er rot. Bei meiner Vorfahrin hielt er bis zu ihrem Tod aus und setzte ihr auch einen Stein »Zu ewigem Gedenken«, der zu meiner Zeit noch zu sehen war.
    Hochsommer war es, als ich ankam. Da war alles anders, als ich dachte, ganz wie zu Hause. Doch auch hier war es so kalt, dass alles erst immer im nächsten Jahr richtig blühte. Ich mit meinem Wahn, der Quellen oder wenigstens Spuren seiner selbst suchte, Blutspuren, hatte den Ozean überflogen (ohne die geringste Anstrengung zwar und das meiste sowieso verschlafen und verflogen), stieß nun auf

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