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Einmal auf der Welt. Und dann so

Einmal auf der Welt. Und dann so

Titel: Einmal auf der Welt. Und dann so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Stadler
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dann sonst noch einmal, wenn Fritz dort etwas zu tun hatte. Aber jetzt hatte sie niemanden mehr, der mit ihr hinüberfuhr. Gelegentlich kam der aus Königsberg stammende und nun in Pico Grande immer noch lebende Fritz (»Kennen Sie Fritz?«) herüber. Er ließ sich gegen ein Trinkgeld von Meier fahren. Dann plauderte man etwas Deutsch, so wie heute, mit einigen ostpreußischen Brocken dazwischen. Und wenn Meier mit seinen Besorgungen fertig war, klingelte er auch schon.
    Meiers Mutter war eine Kreuzung von einem Solothurner Gebirgstäler mit einer Araukanerin. Das klang nach Vieh- oder Hundezucht, war aber ein - vielleicht noch größerer - Zufall. (Wie hätte diese Kreuzung als Viehsorte geheißen? Jura-Araukan vielleicht?) Es war leicht, auch er machte es mir leicht, eine Geschichte dazuzudenken.
    Frau Madefsky war eine schöne Frau gewesen, gewiss. Die Welt war voll von schön gewesenen Frauen.
    Spuren zeugten davon bei Frau Madefsky. Ich konnte das erschließen, die Falten wegdenken, alle Veränderungen rückgängig machen. Dann blieb nur ein Lächeln. Ihre Töchter, sagte sie, sprachen noch den ganzen Tag deutsch und waren so blond wie immer. Aber die Enkel! Das wurde von einem Blauschwarz durchkreuzt. Sie hatten sich auf die einheimische Seite geschlagen. Die alte Frau erkannte ihre Enkel, die sie liebte, nicht wieder. Elbing war umgetauft worden, hieß Elblag, ein kleiner, unverzeihlicher Unterschied. Bald werden die Enkel so groß sein, um in der argentinischen Armee zu dienen. Ihr Vater wurde noch durch preußische Kartoffelfelder gejagt. Kartoffelfelder gab es hier nicht. Für wen beschrieb sie ihre untergegangene Welt?
    Hinter dem Haus war die berühmte Tankstelle für die Camiones, die einzige zwischen hier und dort, ein Hotel für Arbeiter, zu den Ölfeldern in der Provinz Santa Cruz unterwegs.
    All ihre Sätze fingen mit »Ich weiß noch« an; und kein Tag verging ohne Erinnerung, eine Medizin, die zum Tode führt.
    Meine Zeit bei Frau Madefsky war um. Mein Fahrer kam, um mich nach Pico Grande zurückzubringen. Er riss mich heraus, noch ein Loch, nur ein kleines unter dem Dach des Backsteinhauses. »Grüßen Sie Don Fritz und die anderen, alle grriessen!« Mit dem festen Versprechen, wiederzukehren, ging ich.
    Ihre Enkel waren ihr über den Kopf gewachsen (sah ich auf dem Foto) und hatten ganz andere Kopfschmerzen.
    So verlief die Geschichte. Negro verlor schon seine Milchzähne, und das tat weh.
    Er spielt noch immer mit dem Bären. Später wird er Lastwagenfahrer oder Architekt. Wahrscheinlich Lastwagenfahrer.
     
Ich brenne, hätte sie gesagt, hätte sie einer gefragt, wie es ihr gehe
     
    Wieder einmal an allem vorbei, was immer war und nie, zwischen Himmel und Erde oder Hölle - und dies noch träumend, waren wir auch von diesem Ausflug zurück, als hätte mein Leben aus Ausflügen bestanden.
    Im Chevrolet saß man ziemlich oben und zu dritt. Und hinten, auf dem Pick-up, dieses und jenes, und Menschen im Freien, die sich nicht erkälteten.
    Nun waren wir wieder in Pico Grande, und ich sagte auch bald »wir« und »da«, als wäre es zu Hause.
     
    Elena, Rosas Mutter, kam, was in Pico Grande das Selbstverständlichste war auf der Welt, gerade um die Ecke geritten. Ihre Erscheinung erinnerte mich an schön verblühenden Flieder. Es gab sie noch zum Beweis, dass es sie gegeben hatte. Zwar saß sie zu Pferde, ließ sich wie immer aus dem Sattel gleiten, küsste mich pflichtschuldig als von weit her angereist und verwandt, und so steht sie vor mir.
    Damals war sie, so sagt man, in Brand gesteckt worden von ihm. Jetzt lag einer neben ihr im Bett, der schnarchte und seine Füße nicht gewaschen hatte und sich nur mit seinen graubraunen Socken schlafen legte, sonst war er haarig und nackt. Das war noch so einer.
    Er hatte sie überfallen und ließ sie liegen. Seit fünfzehn Jahren ließ er sie liegen. Geschnarcht hat er von Anfang an, aber die Zähne fielen erst im Lauf der Jahre aus. Jetzt lag sie wach. Jetzt brachte er kleine Tierchen von seinen Besuchen in der Stadt mit ins Bett. Sie stachen zusätzlich. Es gab vor Ort kein Heilmittel gegen diese Liebe. Diese Tierchen füllten sich mit ihrem Blut. Das sah sie mit bloßem Auge. Doch sonst hatte sie nichts von ihm.
    Sie fuhr über seine haarige Brust. Jetzt war das Loch doch alles. Es fehlte etwas, mittendrin fehlte etwas. Das, was fehlte, war ganz in der Mitte. Das Loch war leerer, als die Nacht schwarz war.
     
    »Nach innen ist mein Aug jetzt nur noch

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