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Einmal auf der Welt. Und dann so

Einmal auf der Welt. Und dann so

Titel: Einmal auf der Welt. Und dann so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Stadler
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Verwandten.
    Da war noch jemand, der Deutsch sprach und sich über mich freuen würde, aus dem einen Grund, dass ich von zu Hause kam. Ich war gar nichts und niemand, aber auch Frau Madefsky begann zu weinen, kaum dass ich »Guten Tag!« gesagt hatte.
    Warum war sie weggefahren? Sie begrüßte mich überschwänglich, mit ihren Tränen, mit ihrem rollenden R und ihrem Glanz in den Augen.
    Ich war nun schon mehrfach auf diese Weise von Menschen, denen ich wildfremd war oder hätte gewesen sein müssen, begrüßt worden. Sie umarmte mich, was, wäre sie zu Hause gewesen, nie geschehen wäre. Da saßen wir auch schon in der Küche, und nach dieser ersten Aufwallung gab es einen Kaffee, und es war ganz so, als ob es sich bei ihr um einen Menschen handelte, der zurückgekehrt ist. So erzählte sie mitten aus ihrem Leben, das hieß bei der alten Frau: aus ihrer Vergangenheit.
    Sie hätte auch zu Hause bleiben können, dachte ich, warum so schweifend? Aber dann strafte mich meine Erinnerung mit dem Gedanken, dass Frau Madefsky jetzt ohnehin nicht mehr in ihrem Häuschen in der Nähe von Elbing säße, ob mit oder ohne Auswanderung.
    Heute wäre sie eine gewöhnliche Vertriebene, heute säße sie vielleicht in der Gegend von Nürnberg, so wie ihre Schwester, oder wäre einfach tot. Ihr Haus wäre angezündet worden und abgebrannt. Sie hätte nur das Wichtigste in einen Koffer stecken können, mitten im Winter, übers Eis, so wie ihre Schwester. Die Fluchtgeschichten unterschieden sich nur geringfügig.
    Nur im Detail, dachte ich.
    Die Schefskys! Sie wollten nicht mit, blieben einfach in ihrem Haus. Sie hatten gedacht, dass es nur halb so schlimm kommen werde, und wollten abwarten. Aber dann ging es zu Fuß Richtung Sibirien. Wie weit sie kamen, weiß ich nicht. Die ganze Familie, meine Schwester und ihre sieben Kinder, zu Fuß, alle blond. - Kein Zeichen mehr. Zu Hause noch vergewaltigt, selbst die Großmutter noch - und dann getötet, wie von Großwildjägern.
    Frau Madefsky wollte mich nicht zu sehr in ihre Geschichte hineinziehen, so fing sie von ihren zwei Enkeln an, wie sie vor ihren Augen groß wurden und immer noch wuchsen. Von ihren Töchtern im besten Alter. Blonde Sehenswürdigkeiten, die sich vom weltweiten Schwarz abhoben. Ich bekam sie nicht zu Gesicht, aber ich ließ mir sagen, dass die eine das Kolonialwarengeschäft führte und die andere mit einem Lastwagenfahrer verheiratet war (das hieß hier meist: zusammenlebte), der bis nach Santa Cruz und Feuerland hinunterkam, in den argentinischen Teil der Insel.
    Ich müsse sie unbedingt kennenlernen, beide, ich solle wiederkommen. Sie würden für mich kochen. Traute sowieso, aber auch die Jüngere, Erika. Das glaubte ich gern, und ich bedankte mich. Ich hatte das Gefühl, dass ihr auch die Töchter etwas entglitten waren. Sie standen auf eigenen Beinen, kamen nur noch zu Besuch. Kamen zur Tür herein, wohl ohne große Anmeldung, aber nur noch gelegentlich.
    Frau Madefsky machte alles noch selbst: aufstehen, waschen, kochen, zu Bett gehen und was zu einem Leben gehört, und kannte die Welt aus der Bunten. Von drüben bekam sie mit einiger Verspätung die Illustrierten zugeschickt, die Bunte, die unter den Auswanderern eindeutig bevorzugt wurde und sie mit dem schönen Leben in Deutschland verband. Sie führte mich durch ihr Haus. Ich müsse noch das Haus sehen. An den Wänden des Wohnzimmers und des Schlafzimmers die unvermeidlichen Bilder und Fotografien. Aus der Zeit von Es dunkelt schon in der Heide ein Foto ihres verlorenen Hauses auf dem Nachttischchen. Und das Bild ihres Mannes. Ich sah, dass er sie wahrscheinlich auch in Ostpreußen betrogen hätte. Was zwischen ihnen war, setzte sich auch hier fort. Jetzt war er lange tot. Es gab keinen Streit mehr. Sein Bild hatte einen Ehrenplatz. »Der gute Fritz!«, sagte sie. Er hatte sie einfach mitgenommen. Sie wollte nicht weg, aber was blieb ihr anderes übrig, als ihm zu folgen! -
    Hier war er mit abgezogenen Fellen, mit Strohballen, Wein, mit allem, was die Jahreszeiten boten, herumgefahren, ein Landhandel. Er konnte auch bald die Umgangssprache, während sie damit gar nicht angefangen hatte und in fünfzig Jahren nicht über »Buenos dias« und »Gracias« hinausgekommen war. Über den Handel mit den Landprodukten kam er zu seinen Frauen. In jeder Hotel genannten Absteige am Weg konnte er eine haben, dachte ich.
    Nach Pico Grande war sie früher zweimal im Jahr gekommen. Zur Kirschernte bald nach Weihnachten. Und

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