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Einmal auf der Welt. Und dann so

Einmal auf der Welt. Und dann so

Titel: Einmal auf der Welt. Und dann so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Stadler
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unendliches Vermögen, ein unabsehbarer Besitz, der auf mir lastete: Die Grabkammern all meiner Vorfahren gehörten mir.
    Ausgerechnet auf diesem Friedhofshügel, unserem Liebesnest, lagen nur wenige von meinen Menschen, lag so gut wie nichts von mir, wenige Tote nur, mit denen ich meine Vorfahren teilte, aber kein einziger Mensch, von dem ich abstammte, dessen Kind ich war.
     
    Alle sie hätten, genauso wie ich, ihren Stammbaum einsehen, sich Gewissheit verschaffen können, woher sie waren, wenn auch nur durch ein Verfahren, das an den Glauben und den Unglauben grenzte. Die Einsicht, das Resultat, war so unvorstellbar wie das ewige Leben als Paradies.
    Man hat mir meine Gräber ausgeraubt. Immer wieder waren die Grabkammern geöffnet worden. Aus reiner Neugier. Das Grab meines Vaters Karl immer wieder. Zuerst von Otto, der im Gegensatz zu mir gar nicht von Karl abstammte. Er wollte nur sehen, was aus ihm geworden war, und hat ihn, aus einer gewissen Schadenfreude, einem gewissen Respekt, aber auch aus einer gewissen Enttäuschung, dass er fast nichts anhatte, nur noch Fetzen in Braun und Bräunlich, neu einkleiden lassen. Er lag in den Farben des Todes da, vor ihm ausgebreitet. Otto hat damals triumphiert: Das war also der Beweis, dass er tot war, das Grab war gefüllt, gefüllt mit seinen traurigen Resten. Gut so. Aber jetzt noch eine Krone draufgesetzt, wenn auch nur den Reif aus Eisen, etwas Samt dazwischengeschoben, Samt auf den verblichenen Schädel des Alten. Mein armer Vorvater! Kaum dreieinhalb Jahrhunderte später kam Barbarossa und hat sich noch einmal Einblick verschafft, sage ich. »Wer war Barbarossa?«, will sie wissen. Der Name gefiel ihr. Barbarossa? Ein Kaiser, ein Ertrunkener, ein Toter. Er kleidete ihn noch einmal ein, diesmal alles aus Gold, selbst die Nägel des Sarkophags aus schwerem Gold. - Das alles gehört mir!, fiel mir wieder ein, einen Augenblick lang in der Geschichte versackt. War ich nicht der Einzige, der seine Abstammung kannte und daraus Schlüsse zog, die normalerweise als verrückt gelten mussten?
     
    Ich als der Einzige, der seine Väter und Mütter kannte, von denen er wusste und nicht wusste, die in ihm lebten wie immer, wie ein Hund, die tot waren in ihm, für immer. Darauf war ich gestoßen, auf diese Hunde-wie-Menschen-Gräber, auf mich.
    Das kam zu meiner ganzen Geschichte hinzu. Nein. Das ging ihr voraus. Das war die Bedingung ihrer Möglichkeit.
    Ich sagte Rosa, dass sie dies verstehen müsste, wenn sie mich verstehen wollte, auch wenn sie und ich, wir, die Namen im Einzelnen nicht kannten und kennen mussten. Dass es um uns ging, um unsere Herkunft und Zukunft, um unser vorläufiges, weiteres Überleben.
     
    Unsere Geburtstagsbriefe waren ja nur Ausgrenzungen der Umstände, unter denen ich und sie lebten.
    Verstand sie mich, verstanden wir uns?
    Unser Mundgeruch kam von tief unten. Wir wussten nicht, woher er kam, ein Geheimnis wie die Dinge, die unter dem Boden in meinen Gräbern vorgingen. Ein Mundgeruch war auch schnell vergessen, die Erinnerung hatte keine Präsenzpflicht. Aber jetzt vermischte sich ihr Mundgeruch mit ihren Fragen und meinen Antworten und meinem Mundgeruch.
    Sie fragte, warum wir Licht der Welt sagen. Kind! Wenn ich das wüsste!
    Nichts als Vorfahren, die nichts als Vorfahren hatten, ich mit nichts als Vorfahren, sagte ich ihr. Ein kleines philosophisches Mitbringsel, als kleines Memento meiner Erinnerung, ihr zuliebe diese kleine Ouvertüre, die das Generalthema, mein Memento, meine Frage, meine Erinnerung, Erinnerungswunde, das Loch im Kopf auch nur andeutete. Andeutungsweise: »memento«, »memoire«, »mori«, »mourire«, »mousse au chocolat«, »latoflex«, »Placentubex C«, »Vitamin C«, »Leben«. Ich spielte mit Wörtern und meiner Vermutung, welche Wörter sie schon kannte, kennen könnte, andeutungsweise. Schließlich gehörte sie der Romania an, auch hier unten noch, jenem weiten Feld, wo sterben nichts weiter als »mori« heißt, eine Ableitung von »mori« ist, das sich auch in »bleiben« verwandeln kann, je nachdem, wie gut du Latein kannst.
    Es bleiben: die Toten, die Erinnerungen, die Überlebenden.
    Es bleiben nicht: die Kinder, die Kinderbilder, die Schwalben.
    Rosa lacht, aber ich schwindle. Kehren wir zurück?
    Wir legten uns noch schnell in den Windschatten, ich sah eine Weile nur noch rot lackierte Fuß- und Fingernägel über mir. Ein Rot, das recht hatte, immer wieder recht bekam, und ich war drinnen und draußen.

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