Einmal Paradies und zurück
Windschutzscheibe knallte und sie so wenig Widerstand leistete, als wäre sie aus Zuckerguss. Dass ich die Augen aufmachte und den Lasterfahrer sah, der in Panik aufgelöst neben mir im strömenden Regen auf der Straße stand und hysterisch in sein Handy brüllte, der Krankenwagen solle sich gefälligst beeilen, weil es um Leben und Tod gehe.
Aber mir geht es doch wunderbar, dachte ich, während ich ihn beobachtete. Ich kann mich nur nicht bewegen, sonst ist alles in Ordnung. Dann spürte ich plötzlich, wie eine warme, schleimige Flüssigkeit über mein Gesicht und in meinen offenen Mund sickerte. Erst als ein Tropfen davon auf meiner Zunge landete, wurde mir klar, dass es Blut war.
Dann wurde wieder alles schwarz. Frieden.
»Woran sind Sie denn eigentlich gestorben, Charles?«, fragt die Frau mit der Wasserwelle. Sie hat so einen kristallklaren, scharfen britischen Akzent, dass man unwillkürlich an einen Agatha-Christie-Krimi denken muss.
»Typhus.«
»Typhus?«, wiederhole ich fassungslos. Wenn er »die schwarze Pest« gesagt hätte, wäre ich nicht verblüffter gewesen.
»Ja, meine Liebe. Das war im Jahr 1849 eine ziemlich häufige Todesursache. Und Sie?«, fragt er die Wasserwellen-Dame.
»Influenza.«
»Grippe?«, platze ich heraus. Tut mir ja leid, dass ich mich nicht besser beherrschen kann, aber ich denke nur dauernd: Wie kann denn jemand an der Grippe sterben?
» 1919 ist das oft vorgekommen«, erwidert sie barsch. Anscheinend kann sie auch Gedanken lesen. »Es gab mehr Todesopfer durch die Influenza als durch den ganzen Ersten Weltkrieg, wissen sie … ah, hier kommt ja Minnie«, unterbricht sie sich, als ein kleines, vielleicht elf- oder zwölfjähriges Mädchen hereinkommt, die langen braunen Haare mit einem Band zusammengehalten, in genagelten Stiefeln und einer Art Kittelkleid. Ein bezauberndes Kind, und ich will die Kleine gerade fragen, ob sie sich nicht neben mich setzen möchte, als sie sich vor der Tafel aufbaut und uns mit ihrem lieblichen Stimmchen erzählt, dass wir heute lernen, wie man Zeichen übermittelt, durch Träume kommuniziert und einen Menschen führt, ohne seinen freien Willen einzuschränken.
»Aber sie ist doch noch ein Kind!«, flüstere ich der Frau mit der Wasserwelle zu, die links von mir Platz genommen hat.
»Oh, irren Sie sich da mal nicht, meine Liebe. Minnie ist eine ältere Seele als wir alle. Bis heute hat sie über zweihundert Schützlinge auf der Erde betreut, wissen Sie.«
Ach du Scheiße.
Wir lernen in so kurzer Zeit so viel, dass ich kaum alles aufnehmen kann. Bis zu diesem intensiven Crashkurs hat sich mein Wissen über die spirituelle Welt auf Infos aus Filmen wie
The Sixth Sense
und
Ghost
beschränkt. Dann erinnere ich mich an etwas, was Dad gesagt hat – dass er Mum ständig kleine Zeichen zukommen lässt. Und jetzt habe ich genau das auch gelernt. Zumindest glaube ich das.
Wachen und weisen, lenken und leisten
, das ist unser Engel-Motto.
Mir schwirrt der Kopf, und ich möchte eigentlich nur zurück zu Dad und ihm so schnell wie möglich alles erzählen. Aber anscheinend funktioniert das hier nicht so. Kaum ist Minnie fertig, sitze ich auch schon wieder in Reginas Bankbüro, und sie sieht aus, als hätte sie nur auf mich gewartet.
»Alles in Ordnung, meine Liebe? Minnie ist etwas ganz Besonderes, nicht wahr? Ich weiß noch, wie sie hierhergekommen ist, das muss in der Zeit von Queen Victoria gewesen sein. Aber sie ist so eine wundervolle Seele und eine hochbegabte Lehrerin … also, meine Liebe, ich habe eine ziemlich anspruchsvolle Aufgabe für Sie. Ich habe alle Hebel für Sie in Bewegung gesetzt. Warten Sie, wo habe ich denn wieder diese Akte hingelegt? Ach, ich muss endlich diesen Schreibtisch aufräumen, unbedingt. Und zwar gründlich …«
Ich kaure gespannt auf der Stuhlkante. Das ist wie in einem James-Bond-Film, wenn Judi Dench 007 seine neue Mission erläutert. Natürlich ohne die ganzen Geräte und so, aber … hmm … ich frage mich, ob ich vielleicht auch Flügel zugeteilt bekomme?
»Ach ja, ich hab sie«, fährt Regina unterdessen fort und schwenkt die gesuchte Akte. »Hmm. Interessant. Der letzte Engel dieses Schützlings hat sich erst vor ein paar Tagen zurückgezogen. Hat ihn als hoffnungslosen Fall abgeschrieben. Also sehen wir doch mal, ob Sie das besser hinkriegen, ja, meine Liebe?«
»Mit dem größten Vergnügen!«, strahle ich, wobei ich mich frage, ob es wohl noch mehr Training gibt, ehe es richtig losgeht.
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