Einmal rund ums Glück
Wir saßen auf Barhockern an der Theke und tranken Martinis aus Cocktailgläsern.« Meine Mutter lächelt wehmütig bei der Erinnerung. »Dann kam dein Vater herein. Er sah so gut aus und war so schick gekleidet. Er begann … sich für mich zu interessieren, könnte man sagen. Er wollte mit mir ausgehen. Ich fühlte mich geschmeichelt und willigte ein.«
»Und was dann?«, dränge ich weiter. Diese Geschichte interessiert mich.
»Wir … wir verloren die Kontrolle«, bringt sie mit Unbehagen hervor.
»Was soll das heißen?«
Sie holt tief Luft.
»Hattest du Sex mit ihm?«, frage ich. Vorwurfsvoll sieht sie mich an. Wir reden nie über Intimitäten. So eine Beziehung hatten wir nie zueinander. »Bei der ersten Verabredung?« Sie antwortet nicht, doch ich kann es plötzlich deutlich vor mir sehen. »Und du wurdest schwanger mit mir«, sage ich dumpf. Ich bin also der Grund, warum sie in einer unglücklichen Ehe landete. Doch ihre nächsten Worte schockieren mich. »Nicht mit dir«, sagt sie.
Ich bleibe mitten auf dem Bürgersteig stehen und starre sie an, kann keinen Schritt weitergehen.
»Mit wem denn dann?«, frage ich und ersticke fast an den Worten.
»Vielleicht ist dies nicht der richtige Ort.« Sie weist auf die Straße, auf den Bürgersteig, ein billiges italienisches Restaurant ein paar Meter weiter.
»Du kannst jetzt nicht einfach aufhören!«, warne ich sie mit Übelkeit in der Magengrube. »Erzähl es mir!«
»In der 22 . Woche hatte ich eine Fehlgeburt. Nach fünfeinhalb Monaten«, fügt sie hinzu, als sie merkt, dass ich im Kopf nachrechne. »Es war ein Junge«, sagt sie traurig.
»Ich hätte fast einen Bruder gehabt?«
Sie nickt.
»Warst du da schon mit meinem Vater verheiratet?«
»Ja. Aber erst einen Monat. Man sah noch nichts. Dein Vater war erschüttert. Er hatte sich immer einen Sohn gewünscht.« Entschuldigend schaut sie mich an, und in dem Moment erinnere ich mich an einen Satz, den mein Vater zu mir sagte, als ich fünf oder sechs Jahre alt war.
»Du hättest wenigstens ein Junge sein können …«
»Hast du nach mir keine Kinder mehr haben wollen?«
Sie sieht in die Ferne. »Doch. Es waren alles Fehlgeburten.«
»Alles?« Erschrocken starre ich sie an.
»Insgesamt sechs, aber alle im ersten Schwangerschaftsdrittel. Ich habe nie erfahren, welches Geschlecht die Babys hatten.«
»Und ich? Warum bin ich keine Fehlgeburt?« Das ist eine abwegige Frage, und ich rechne gar nicht damit, dass meine Mutter eine Antwort darauf hat, deshalb erschrecke ich mich, als sie plötzlich einen gehetzten Gesichtsausdruck bekommt. »Mutter?«
»Komm, gehen wir weiter!« Ich haste ihr nach, warte darauf, dass sie weiterspricht. Schließlich ist es so weit. »Ich hatte das Gefühl, dein Vater würde mich hassen.«
Fragend sehe ich sie an.
»Ich hatte seinen Sohn verloren.«
»Aber das war doch nicht deine Schuld!«
»Das sah er aber anders. Er wollte es erneut versuchen. Sofort danach. Da hatte ich die nächste Fehlgeburt. Dann wurde ich längere Zeit nicht mehr schwanger, und er wurde immer vorwurfsvoller und verbitterter.«
»Aber wie bist du damit klargekommen? Du musst doch selbst total fertig gewesen sein.«
»War ich auch«, sagt sie. »So fertig, dass ich es nicht in Worte fassen kann. Und dann mit seinem Hass zu leben … Es war einfach zu viel.«
»Deshalb hast du ihn verlassen?«
»Ja.«
»Und das war, bevor ich zur Welt kam?« Ich bin atemlos vom schnellen Gehen.
»Ungefähr zehn Monate davor, ja.«
»Wow. Dann hast du ihn also nicht lange allein gelassen.«
Sie schüttelt den Kopf. Ihr Gesichtsausdruck ist gequält.
»Was ist?«
Im Licht der Straßenlaternen sehe ich, dass sie Tränen in den Augen hat. Ich bleibe stehen, getroffen von einer Erkenntnis. Sie hält ebenfalls an und sieht mir ins Gesicht.
»Er ist gar nicht mein Vater, oder?«
Sie steht einfach nur da, sagt nichts, nickt nicht, schüttelt nicht den Kopf. Sie sieht mir nur fest in die Augen, und die Zeit scheint stillzustehen.
»Ich weiß es nicht«, ist ihre Antwort.
»Du weißt es nicht?«, frage ich mit bebender Stimme.
»Ich weiß es nicht.«
»Wieso weißt du das nicht?« Langsam werde ich hysterisch. »Wer war es dann? Mit wem hast du noch geschlafen?« Die letzten Worte klingen verbittert.
»Mit meiner großen Sandkastenliebe.«
»Grr!«, mache ich. Dieses Wort kenne ich nur zu gut.
Unsicher beobachtet sie mich, doch mein Zorn ist nicht so groß wie das Bedürfnis, die Wahrheit zu
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