Einmal scheint die Sonne wieder
gegenüber im Flur, oder hinter wem immer sie an der Reihe war, aus dem Badezimmer zurückgekommen war. Dann ging sie ganz langsam und ohne nach rechts und links zu gucken in das Badezimmer.
Im Badezimmer durfte man nicht reden, tat es aber natürlich doch. Auf meinem ersten Ausflug begleitete mich eine Schwester. Zufällig eine freundliche, die mir erzählte, wer die einzelnen Patientinnen an der Westseite des Flurs seien. Als wir an der Vierbetten-Station vorbeikamen, winkte Eileen vergnügt, obwohl die Oberschwester gerade auf ihrer Runde dort im Zimmer war.
Im Badezimmer traf ich an diesem ersten Morgen ein kleines braunhaariges Mädchen namens Myra, die mir erzählte, daß sie drei Jahre mit völliger Bettruhe im Fichtenhain gelegen hätte, in beiden Lungen Kavernen von Teetassengröße habe, einen doppelseitigen Pneumothorax bekäme, gerade sechs Monate verheiratet gewesen sei, als sie krank wurde, daß ihr alles Essen im Fichtenhain zuwider wäre und sie auf eine „Thoro“ hoffe. (Die Schwester erklärte mir, daß dies eine Thorakoplastik sei, bei der ein kleines Stück aus allen Rippen auf einer Seite fortgenommen würde, wodurch diese Seite sehr viel enger und eine dauernde Stillegung der Lunge erreicht würde.)
Myra fragte Kimi und mich, ob wir irgendeine Behandlung bekämen oder eine Operation gehabt hätten. Wir verneinten, und sie meinte, daß sei ja ganz schlimm, aber manchmal seien die Fälle eben schon so weit, daß man nicht wagte, irgendwas zu unternehmen. Kimi entgegnete ärgerlich: „Ein Patient, mit dem es schon so weit ist, würde doch nicht ins Badezimmer gehen.“ Myra antwortete: „Och, die versuchen, den schweren Fällen die letzten Monate noch angenehm zu machen.“ Dann verzog sie sich, mitsamt ihren großen Kavernen und finsteren Prophezeiungen.
Auch Sylvia war im Badezimmer. Sie erzählte, daß sie eine Zwerchfell-Operation gehabt hätte und jetzt gar nicht mehr huste. Wir fragten sie, wie das sei, eine Zwerchfell-Operation, und sie erklärte, dabei würde der Nerv zerstört, der das Zwerchfell regele, so daß dieses gegen den unteren Teil der Lunge hochdrücke und eine partielle Stillegung hervorriefe. Sie war heiser und atmete mühsam. Sie erzählte, daß ihre Magenschmerzen viel besser seien, seit man sie auf Darmdiät gesetzt hätte. Reizend war sie und heiter, aber jammervoll, schrecklich dünn, und Kimi und ich schämten uns unserer vollen Gesichter und wohlgefüllten Bademäntel. Sylvia erzählte, daß Marie immer noch Temperatur und darum noch keine Badezimmererlaubnis bekommen hätte.
Auch das kleine Mädchen von dreizehn und die alte Frau von achtundsiebzig Jahren waren im Badezimmer. Die alte Frau sagte: „Nur Tee kann ich vertragen. Alles andere steht mir vorm Magen, und ich krieg Blähungen“ (sie sprach es Blääungen aus). Das kleine Mädel hatte runde, feuerrote Backen und redete kein Wort. Die alte Frau fuhr fort: „Ich hab so viel Blääungen im Bauch, daß ich nicht schlafen kann. Die Oberschwester macht gar nichts dabei. Der ist das gleich, denn sie ist ja auf und läuft rum und liegt nicht mit Schmerzen im Bett.“
Das kleine Mädchen kicherte hinter der Hand, dann hustete es. Es war ein tiefer, bellender Husten, der gar nicht wie ein Kinderhusten klang. Hinterher zitterte sie und mußte sich ans Bett lehnen. Ich erkannte diesen Husten wieder. Wir hatten ihn immer von der Vierbetten-Station gehört. Die alte Frau sagte: „Hören Sie sich das bloß an! Nicht ein bißchen tun sie für das arme Kind. Stecken es einfach ins Bett und lassen es sterben.“ Die Kleine sah Kimi an und lächelte. Sie schwieg.
Auf dem Rückweg aus dem Badezimmer erwartete uns Eileen. Sie kniete am Fußende ihres Bettes und beugte sich in den Flur hinaus. Als wir vorbeikamen, zischte sie: „Nur vier Tage noch, und ich werd verlegt und geh ins Badezimmer. Jesus, Mädels, ihr solltet bloß ,Huch-was-ist-mir-da-rausgerutscht!‘ hören. Den ganzen Tag schwafelt sie von ihren Symptomen. Wenn sie die bloß auf Schweigen setzen würden!“ Kimi und ich winkten, lächelten und gingen so langsam wie möglich. Auch Minna winkte und sagte: „Ach – wär ich doch soo grooß und dick wie ihr zwei. Kimi, Sie sind fett wie ein Schwein.“ Eileen fuhr los: „Da haben wir’s wieder. ,Sie sind soo grooß! Sie sind enohrm! Sie sind so feist. Ich bin so klein! Ich bin so winzig! Ich bin so’n dreckiges kleines Ekel.“ Minna entgegnete irgend etwas, aber wir waren schon an der Tür vorbei und
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