Einmal scheint die Sonne wieder
vor mir. Anne und Joan hatten neue dunkelblaue Mäntel an, strahlende Gesichter und waren wunderbar.
Anne sagte mit Tränen in den Augen: „Ich möcht dir so gern einen Kuß geben,“ und Joan: „Ich kann mit meinen Rollschuhen eine Acht;“ darauf Anne: „Die Schwester hat gesagt, wir dürften nicht mal dein Bett anfassen,“ und Joan wieder: „Ich kann mit meinen Rollschuhen eine Acht.“
Ich fragte: „Findet ihr dies Krankenhaus nicht großartig, Kinder?“ Anne meinte: „Es stinkt.“ Dann fügte sie taktvoll hinzu: „Nach Medizin. Wann darfst du nach Hause, Mammi?“ Joan sagte: „Wenn du nach Haus kommst, kannst du sehen, wie ich eine Acht auf meinen Rollschuhen fahre.“ Da kam Kimis Familie herein, und die Kinder starrten sie wie gebannt an und mußten herumgedreht werden, damit sie zu mir hinguckten.
Ich fragte nach der Schule und Anne erzählte mir, was „Charlie Thomas für ein furchtbarer Schummler ist, aber die Lehrerin liebt ihn so, daß sie ihn schummeln läßt – und sie hilft ihm sogar“, was unwahrscheinlich klang. Joan fragte: „Was ist das, schummeln?“ Ich sagte: „Ach, andere Leute bitten, daß sie einem bei den Schularbeiten helfen, aus den Heften von anderen Kindern abschreiben, beim Abfragen ins Buch gucken.“ Joan sagte: „Och, so was mach ich immer. Das machen alle. Ich ärger mich bloß so schrecklich über Marilyn, denn wenn ich aus ihrem Rechenheft abschreibe, sind immer alle Lösungen verkehrt. Gestern hab ich zweimal eine Acht auf meinen Rollschuhen gefahren.“ Anne meinte: „Ach, hör bloß von den blöden Achten auf.“ Joan erzählte: „Weißt du, Großmutter hat uns gesagt, daß wir nicht darüber reden sollen, wie es ist, wenn man Japaner ist.“ Da kam die Oberschwester herein, und die zehn Minuten waren herum. Die Kinder warfen mir Kußhände zu und nahmen mein Herz mit, als sie der Oberschwester folgten.
Nach dem Essen, am frühen Abend, der schwermütigsten und einsamsten Tageszeit, schien das Radio wie besessen und ganz abgestellt auf Melodien wie „Sonny Boy“, „Mein Herzblatt“, „Du mein Junge“, die alle auf der Orgel gespielt wurden. In unserer kleinen Kammer herrschte tödliche Stille, und in meiner Ecke häufte sich der Kummer wie schmutziger Schnee. Ich starrte an die Decke und malte mir aus, wie Anne in geflickten Schuhen von Tür zu Tür ging, um Bestellungen auf fetttriefende Pfannkuchen entgegenzunehmen, die ich zu Hause buk, und wie Joan auf der Straße Rollschuhe lief und mir zeigen wollte, daß sie eine Acht fahren konnte, und dabei von einem Lastwagen angefahren wurde, als Kimi dahinein sagte: „Lieber hätt’ ich hübsche Kinder, die ich nur einmal im Monat sehen darf, als kleine Ungeheuer, die ich immerzu sehen kann.“
Kimis Mutter, Vater und Bruder kamen jeden Besuchstag, strahlend vor Glück und gebeugt unter der Last ihrer Päckchen: neue Morgenröcke, Unterziehwesten, Bettjäckchen, Bänder für Kimis Haar, Körperpuder, Gesichtswasser, Japanischen Sembi (ein köstlicher brauner Keks, der wie ein Gemisch aus Brezeln und Erdnüssen schmeckte), gebratene Hühnchen mit Shoyu-Soße, Obst, Süßigkeiten, Apfel und Zeitschriften. Obwohl sie immer Japanisch sprachen und ich nicht verstehen konnte, was sie redeten, bemerkte ich etwas Gebieterisches in Kimis Haltung ihrer Familie gegenüber.
An diesem Tag hatte sie sich in ihre Kissen zurückgelehnt, ein hellgelbes Bettjäckchen unterm Kinn zugebunden, das dichte dunkle Haar mit einem gelben Seidenband zurückgehalten, einen großen Strauß weißer Chrysanthemen neben ihrem Bett, und sah aus wie eine sehr schöne orientalische Prinzessin, die ihren Sklaven Befehle gibt. Ich sprach sie darauf an. Sie sagte: „Manchmal machen Sie ein bißchen viel her mit ihren Geschenken. Manchmal muß ich sie etwas kneifen.“
Kimi war zwölf Jahre jünger als ich, aber als ich mit ihr ein Zimmer teilte, lernte ich, daß wir zwar intellektuell ebenbürtig, sie mir menschlich jedoch überlegen war. Ich hatte ihr nur einige Erfahrung voraus. Sie fand, daß das nicht richtig sei. Es läge nur daran, daß sie Japanerin sei und gewohnt, ohne Widerrede zu gehorchen. Sie wollte mich lehren, dem japanischen Vorbild nachzueifern, und mir als erste Einführung dazu Unterricht in der Sprache erteilen.
Sie hat schwer daran gearbeitet, aber als ich den Fichtenhain acht Monate später verließ, konnte ich nichts anderes auf japanisch sagen als „Guten Morgen“, „Guten Abend“, „Wie geht es Ihnen
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