Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Einmal scheint die Sonne wieder

Einmal scheint die Sonne wieder

Titel: Einmal scheint die Sonne wieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Betty McDonald
Vom Netzwerk:
im linken Handgelenk hatte. Wenn ich eine Faust machte oder meine Finger abbog, fühlte es sich an wie knitterndes Seidenpapier. Ich fragte die Abendschwester deswegen, und die machte ein erschrockenes Gesicht und holte sofort den Stationsarzt, der mir ein Beruhigungsmittel gab. Am Morgen war das knirschende Gefühl vorbei. Ich fragte die Oberschwester, was es gewesen sei; aber sie lächelte nur und fragte mich, wer mir am Morgen vorher die Einspritzung gemacht habe.
    Mittags tat Charlie sehr erstaunt, daß ich die Nacht überstanden hatte, und fragte, wie ich mich jetzt fühle. Ich erzählte ihm von dem Seidenpapier in meinem Handgelenk. Er sagte: „Luft in den Adern. So bringen sie die Kaninchen im Laboratorium um. Drücken ihnen Luft in die Adern und bringen das Herz zum Stillstehen. Die Luftblase, die Sie in Ihren Adern haben, kann jetzt jeden Augenblick in Ihr Herz wandern. Dann hört’s einfach auf. So.“ Er knipste mit den Fingern. „Na, Sie merken ja nichts davon,“ schloß er tröstend.
    Zwei Tage nach meiner Operation bekam ich eine neue Zimmergenossin. Ein Mädchen namens Katharine Harte, die lockiges schwarzes Haar, große grüne Augen, Grübchen und ein Empyem hatte. Kate war fünfundzwanzig Jahre alt, seit zwei Jahren im Fichtenhain, hatte schon zwei Wochen fast nichts gegessen, mußte Tag und Nacht mit hochgestellter Kopfstütze liegen und war aufs Sterben gefaßt. Sie erzählte mir, daß sie das Gefühl habe, sie schwämme zwölf Zentimeter über ihrem Bett und sähe alles durch einen dicken grauen Nebel. Wenn die Schwestern mit ihr redeten, tauche sie aus dem Nebel auf und wieder in ihm unter, und wenn sie auf sie schimpften, könne sie einfach die Augen zumachen und nach Belieben von ihnen wegschwimmen.
    Der Tag nach Kates Ankunft war Besuchstag. Als ich mich nach dem Essen schminkte, teilte Kate mir mit, daß sie ihre Familie gebeten hätte, zu Hause zu bleiben, denn sie wolle die Besuchsstunden über mit geschlossenen Augen in dem grauen Nebel schwimmen. Ich sagte gar nichts. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil es mir so gut ging und sie so krank war, und weil ich wußte, daß Mutter, Mary und Madge kommen würden und meine Besuchsstunden herrlich werden mußten.
    Um 2 Uhr schlug Kate die Augen nicht auf. Sie lag wachsbleich in ihrem weißen Bett und sah aus, als sei sie auf das Kissen gezeichnet, ihre Wimpern und Brauen als kühne schwarze Striche, ihr Haar als kleiner schwarzer Fleck. Selbst als Mary, Mutter und Madge hereinkamen und vergnügt einen Arm voll Forsythien, zwei Bücher von Humphrey Pakington und eine große Schachtel mit Haferflockenplätzchen auf meinem Bauch abluden und Mutter mir von den Kindern, den Ereignissen zu Hause, in der Schule und im Garten erzählte, lag Kate still wie der Tod, mit geschlossenen Augen, und schwamm offensichtlich in ihrem Nebel.
    Dann erzählte Mary, wie sie einen Arzt aus Boston zu Gast gehabt hätten. Er sei so reserviert, so östlich und so voller Mißbilligung gegen den formlosen Westen gewesen, daß sie sich nach zwei Tagen ihrer Zugehörigkeit zum Westen sehr bewußt gewesen sei; so sehr, daß sie bei jedem Schritt ihre Sporen klirren hören konnte und sich bei jedem Wort in acht nehmen mußte, daß sie nicht ihr Lasso über ihrem Kopf schwang und ihn „Kamrad“ nannte. Marys Geschichten waren immer witzig, aber selbst wenn sie es nicht gewesen wären, war sie auf eine so warme und lebendige Weise sie selbst, daß ihre bloße Anwesenheit in dem kalten, regendurchwehten Zimmerchen so wohl tat wie ein flackerndes Feuer.
    Bevor Mary mit ihrer Geschichte zu Ende war, blieb die Oberschwester in der Tür stehen und ermahnte Kate und mich, nicht zu lachen. Ich war überrascht, daß sie auch Kate einbezog, und sah zu ihr hinüber. Ihre grünen Augen waren offen, und sie wischte sich Tränen fort, so hatte sie gelacht. Ich stellte sie meiner Familie vor. Madge sagte: „Mein Gott, wie schön Sie sind! Warum müssen Sie so hochsitzen?“ Kate sah aus Angst vor den Schwestern vorsichtig zur Tür, erklärte ihr, daß sie ein Empyem hätte, eine Infektion in der Pleurahöhle, und fügte beiläufig hinzu, daß sie im Sterben läge. Madge tat das Sterben als nebensächlich ab. Sie wollte die Symptome dieses Empyems wissen, in allen Einzelheiten hören, wie Kate Tuberkulose bekommen hätte und was die ersten Anzeichen gewesen seien.
    Ich meinte, wenn sie sich mit Kate unterhalten wolle, sei es besser, an deren Bett zu rücken und so zu tun, als ob sie

Weitere Kostenlose Bücher