Eins, zwei, drei und du bist frei
einer nur für Hundeohren hörbaren Stimmlage.
»Was?«
»Der Mann in dem Wagen. Er hat auf mich geschossen!«
»Nein!«
»Haben Sie das nicht gehört?«
»Herrjemine«, sagte sie. »Ist das nicht schrecklich? Ich dachte, es wäre eine Fehlzündung. Ich hatte nur Augen für den vereisten Boden. Wissen Sie, ich muß aufpassen. Letzten Winter ist meine Schwester hingefallen und hat sich die Hüfte gebrochen. Ich mußte sie in ein Pflegeheim stecken. Sie hat sich nie wieder richtig davon erholt. Aber es ist nicht so schlimm. Sie kriegt zweimal die Woche Wackelpudding zum Nachtisch.«
Ich tastete mit zitternden Fingern die Einschußlöcher in dem Müllcontainer ab. »Das ist heute schon das zweite Mal, daß jemand auf mich schießt!«
»Es wird noch mal so schlimm, daß man sich gar nicht mehr aus dem Haus traut«, sagte Mrs. Karwatt. »Bei dem Eis und der Schießerei. Seit wir den Menschen auf den Mond geschickt haben, geht unser Planet den Bach runter.«
Ich suchte jemanden, den ich für mein jämmerliches Leben verantwortlich machen konnte, aber Neil Armstrong die ganze Schuld in die Schuhe zu schieben, erschien mir auch nicht richtig.
Mrs. Karwatt warf ihre Tüte in den Müllcontainer und marschierte zurück zum Haus. Ich wollte mich ihr anschließen, aber mir schlotterten die Knie, und meine Füße gehorchten mir nicht.
Ich riß die Tür zu meinem Wagen auf, ließ mich auf den Fahrersitz fallen und klammerte mich mit den Händen ans Steuerrad. Also gut, sagte ich mir. Reiß dich zusammen. Die beiden Ereignisse waren einfach irre Zufälle. Bei den ersten Schüssen handelte es sich um eine Personenverwechslung. Bei den zweiten um eine – tja, was eigentlich? Eine Morddrohung!
Scheiße!
Ich holte mein Handy aus der Umhängetasche und rief Morelli an.
»Gerade hat jemand auf mich geschossen!« schrie ich ins Telefon. »Ich wollte zu meinem Wagen auf dem Parkplatz, und da kommt so ein Kerl mit Skimaske angefahren und sagt mir, ich sollte nicht mehr nach Mo suchen. Dann hat er auf mich geschossen. Warnschüsse, hat er gesagt. Und dann ist er weggefahren.«
»Bist du verletzt?«
»Nein.«
»Bist du in unmittelbarer Gefahr?«
»Nein.«
»Hast du dir in die Hose gemacht?«
»Beinahe.«
Wir schwiegen ein paar Takte. Wir brauchten Zeit, um alles zu verdauen.
»Hast du seine Autonummer?« fragte Morelli. »Kannst du den Kerl beschreiben?«
»Ich war viel zu verstört, um mir die Autonummer zu merken. Der Kerl war durchschnittlich gebaut. Weiß. Mehr kann ich nicht sagen.«
»Geht es dir jetzt wieder besser?«
»Ja.« Ich nickte mit dem Kopf. »Es geht. Es war nur… Ich mußte es loswerden.«
»Wo ich dich gerade an der Strippe habe…«, sagte Morelli.
Verdammt! Ich hatte vergessen, daß ich Morelli aus dem Weg gehen wollte! Ich unterbrach kurzerhand unser Gespräch. Nichts für ungut, sagte ich im stillen zu ihm. Ist nicht böse gemeint. Aber es war sicher nicht ratsam, noch länger hier auf dem Parkplatz zu sitzen. Bleiben mir zwei Möglichkeiten. Ich konnte wie geplant meine Mutter besuchen oder zurück in meine Wohnung gehen und mich im Kleiderschrank verstecken. Die Vorstellung, im Kleiderschrank zu hocken, hatte kurzzeitig etwas sehr Anziehendes, aber irgendwann hätte ich mich ja doch wieder herauswagen müssen, und bis es soweit war, hatte ich das Abendessen wahrscheinlich verpaßt.
Meine Mutter lachte nicht wie üblich, als sie mir die Tür aufmachte.
»Und?« sagte sie.
»Ich war es nicht.«
»Das hast du auch immer gesagt, als du noch klein warst, und es war immer geschwindelt.«
»Ganz ehrlich«, sagte ich. »Ich habe keinen erschossen. Ich wurde bewußtlos geschlagen, und als ich wieder zu mir kam, lag neben mir ein Toter im Flur.«
»Du läßt dich bewußtlos schlagen?« Meine Mutter stieß sich mit dem Handballen an die Stirn. »Meine Tochter! Läuft rum und läßt sich bewußtlos schlagen!«
Grandma Mazur stand erwartungsvoll hinter meiner Mutter.
»Weißt du genau, daß du ihn nicht umgelegt hast? Ich kann schweigen wie ein Grab.«
»Ich habe ihn nicht umgelegt!«
»Wie schade. Da bin ich aber schwer enttäuscht«, sagte sie. »Ich hatte mir schon so eine schöne Geschichte für die Mädchen im Schönheitssalon zurechtgelegt.«
Mein Vater saß im Wohnzimmer, vor dem Fernseher verschanzt. »Hm«, grunzte er, ohne einen einzigen Muskel zu rühren.
Ich schnupperte in der Luft. »Braten?«
»Ich habe ein neues Rezept von Betty Szajack ausprobiert«, sagte meine Mutter.
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