Einsame Spur (German Edition)
ich natürlich nicht begriffen, was mit mir geschah, aber ich war plötzlich hypersensibel. In wenigen Minuten konnte ich von Wut zu Freude und wieder zu Enttäuschung wechseln.« Die Kardinalmediale hatte ihn mit einem schiefen Lächeln angesehen. »Wenn ich keine solche Angst gehabt hätte, in der Rehabilitation zu landen, wäre es die Hölle mit mir gewesen.«
Toby musste nicht fürchten, seiner Gefühle wegen bestraft und einer Gehirnwäsche unterzogen zu werden, er brauchte auch keine Angst zu haben, dass man seine Persönlichkeit brutal auslöschte. Und wenn die Pubertätsängste ihn eines Tages überfielen, würde er die notwendige Unterstützung bekommen, selbst wenn diese Ängste durch seine empathischen Fähigkeiten noch verstärkt würden; mit Liebe und Disziplin würde er gestärkt daraus hervorgehen.
Hawke lauschte dem angeregten Gespräch der Geschwister, und sein Wolf streckte sich zufrieden aus. Endlich hatte er wieder eine eigene Familie. Die Erkenntnis traf ihn immer noch wie ein Schlag in den Magen. Für den Leitwolf gehörte jeder Rudelgefährte zur Familie, aber eine eigene Familie zu haben war etwas vollkommen anderes.
»Triffst du dich schon mit Mädchen?«, fragte er in eine Gesprächspause hinein.
Im Rückspiegel sah er, wie Tobys Gesicht flammend rot wurde. »Ähm, hm, nein.«
Nach dem, was er auf dem Fest mitbekommen hatte, hatte sich Hawke schon so etwas gedacht, doch der Junge wurde bald dreizehn. Offensichtlich hatte er das andere Geschlecht bereits wahrgenommen, ohne selbst schon einen Schritt darauf zugemacht zu haben. »Aber du kennst ein paar von den älteren Jugendlichen?«
»Schon.« Toby beugte sich vor. »Aus meinem Fußballteam.«
»Reden die von den Leopardenmädchen?«
Sienna lachte. »Oh nein.«
»Oh doch.« Hawke sah wieder in den Rückspiegel. »Toby?«
»Ähm, ja.« Der Junge zögerte. »Ich will aber nicht, dass jemand Schwierigkeiten bekommt.«
»Keine Sorge, das passiert nicht.« Hawke hatte mit den über Achtzehnjährigen über rudelfremdes Flirten gesprochen, sie wussten, was akzeptabel war und was nicht. Doch wenn jetzt schon die jüngeren Gefährten Bande knüpften, müssten sich beide Rudel konkrete Verhaltensregeln überlegen. »Regeln sind für alle gut.«
Toby nickte deutlich genug, dass Hawke es aus dem Augenwinkel wahrnahm. »Miteinander gehen oder so tun sie nicht«, sagte der Junge, »aber einige würden es wahrscheinlich gerne – wenn sie keine Angst davor hätten.«
»Weiter«, sagte Hawke.
»Sie fürchten, sie könnten was falsch machen und die Leoparden verärgern, was dem Bündnis schaden würde. Das gilt nicht nur für die Jungen.«
Also konnte man vor dem Problem nicht mehr die Augen verschließen, sie mussten Richtlinien für die Beziehungen zwischen den Rudeln aufstellen. Denn Wölfe und Leoparden gehörten zwar zur Gruppe der Raubtiere, doch es gab feine Unterschiede zwischen ihnen, die Erwachsene zu schätzen wussten, an denen sich Jugendliche aber die Pfoten verbrennen konnten, wenn sie nicht ein paar grundlegende Regeln beherrschten. »Danke, Toby.« Er würde Lucas vorschlagen, eine Arbeitsgruppe aus Müttern beider Rudel zu bilden.
Etwas zog an seinem Band zu Sienna.
Sein Wolf stellte die Ohren auf, er sah Sienna an. »Du hast gerufen?«
»Bei den über Achtzehnjährigen gibt es mindestens eine ernsthafte Beziehung.«
»Namen?«
»Dann könnte ich meinen Freunden nicht mehr in die Augen sehen.«
»Sienna!«
Wieder meldete sich das Band, diesmal mit eindeutig mehr Gefühl. Der Wolf war Widerstand nicht gewohnt und schüttelte den Kopf. Dann begriff er, dass seine Gefährtin ihn daran erinnerte, dass er nicht ihr Leitwolf war und es nie sein würde. Knurrend knirschte er mit den Zähnen. »Diese Regel gefällt mir gar nicht.« Was nicht stimmte, aber in einem Augenblick wie diesem war es verdammt ärgerlich.
»Deshalb brauchen wir sie ja.« Sienna küsste ihn liebevoll auf die Wange.
»Ich bin gerne mit euch zusammen«, meldete sich Toby von hinten. »Selbst wenn ihr euch streitet, seid ihr tief innen drin glücklich miteinander.«
Wolf und Mann stimmten mit Toby in diesem Punkt vollkommen überein. Hawke nahm Siennas Hand, führte sie an die Lippen und biss zu. Ihr überraschter Aufschrei brachte Toby zum Lachen.
Meine Familie, dachte Hawke.
Einige Stunden nach ihrem Zusammenbruch am Wasserfall, als am Himmel rauchgrau die Dunkelheit hereinbrach, kam Adria wieder in der Höhle an. Ihr Hals war so rau, dass sie nur
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