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Einsamen

Einsamen

Titel: Einsamen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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glaube«, sagte Tillgren und fuhr etwas schneller, »nein, ich bin mir ziemlich sicher, dass es dein Schnarren ist, was mein Gerät aufgenommen hat.«
    »Hör auf«, wehrte Wennergren-Olofsson ab, »was ist das für ein Blödsinn, den du da redest?«
    »Ich möchte sogar behaupten«, sagte Tillgren und hob dabei ein wenig die Stimme, »dass meine Aufnahme ausgezeichnet gewesen wäre, wenn nicht dein verfluchter Recorder brummend daneben gelegen hätte.«
    »Was um alles in Ångermanland und Umgebung faselst du da?«, fragte Wennergren-Olofsson. »Das ist ja wohl …«
    Plötzlich spürte Tillgren, wie etwas in ihm geschah. Unklar, was, aber es schien, als wäre ein Damm gebrochen. Als gäbe er etwas Starkem, Unbändigem nach, etwas, das hervorquoll, ohne sich aufhalten zu lassen, ja, ein Lavastrom war das, und mit einem einzigen Schlag, innerhalb weniger Sekunden, veränderte sich das Verhältnis zu seinem Kollegen Wennergren-Olofsson radikal. Das war verdammt merkwürdig und verdammt schön.
    »Kannst du einen Moment lang mal deine Schnauze halten, du verfluchter Idiot«, sagte er.
    »Was?«, erwiderte Wennergren-Olofsson.
    Tillgren räusperte sich. »Du hast ganz einfach die Batterien in deinem Aufnahmegerät nicht überprüft«, erklärte er. »Der einzige Nutzen, den wir dadurch hatten, war, dass meine Aufnahme der Vernehmung gestört wurde. Es wäre besser gewesen, wenn ich mich selbst drum gekümmert hätte. Und versuch gar nicht erst, dich zu rechtfertigen, ich bin deine überheblichen Phrasen schon lange leid.«
    »Ja, aber, ich …«, setzte Wennergren-Olofsson an, doch Tillgren schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad und brachte ihn so zum Schweigen.
    »Es reicht jetzt«, erklärte er. »Ich will kein Wort mehr von dir hören. Du kannst schon mal anfangen, die Vernehmung aus dem Gedächtnis aufzuzeichnen. Du hast doch die ganze Zeit dabeigesessen und zugehört, irgendwas musst du ja aufgeschnappt haben. Aber ich will es lesen, bevor wir es abgeben, da kannst du dir sicher sein. Verdammter Auerochs!«
    Der Kehlkopf von Kriminalassistent Wennergren-Olofsson hüpfte auf und ab wie ein überhitzter, altmodischer Fahrtenschreiber, und die Farbe seines Gesichts schlug um ins Karmesinrote, aber aus seinem Mund kam nicht ein Wort. Nicht ein einziger leiser Pieps.
    So, dachte Tillgren und schaltete das Radio ein. Nichts Schlechtes, was nicht auch was Gutes mit sich bringt.
    »Fang schon mal an«, sagte er. »Du hast eindreiviertel Stunden Zeit. Brauchst du Stift und Papier?«

35
    E s war wie das Aufbrechen des Wintereises.
    Ein langsames, etwas widerstrebendes Eisaufbrechen, ungefähr wie es daheim in den Wasserläufen in Värmland vor sich ging. Hin und her, manchmal kam der Frost des Nachts zurück und es war kälter, wenn man morgens aufwachte, als abends, als man ins Bett gegangen war. Aber es ging langsam voran, der Prozess war ebenso unaufhaltsam wie der Wechsel der Jahreszeiten, nach dem Winter kam der Frühling.
    So beschrieb sie es Tomas, und sie sagte außerdem, dass er ihr leid tat. Bat ihn um Verzeihung. Er hatte schließlich auch zwei Kinder verloren, aber sie war diejenige, die den ganzen Schmerz auf sich genommen hatte. Das Recht zu trauern und den Verlust zu spüren und sich in ihr eigenes Elend zu versenken. Er erwiderte, dass sie sich deshalb keine Gedanken machen sollte, wenn das Aufbrechen des Frostes nur langfristig in der richtigen Richtung verlief, dann hatte es keine Eile. Sie war eine Frau, er ein Mann, es wäre albern zu glauben, dass alles auf einer geschlechtslosen Waage austariert werden könnte, so funktionierte es nicht.
    Sie hatte ihre eigenen Ansichten, was das Männliche und das Weibliche betraf, führte sie jedoch nicht aus. Es reichte, dass die Kälte in ihrem Inneren schmolz, dass sich stattdessen das Leben wieder einstellte, dass sie plötzlich wieder lachen und sich für andere Dinge interessieren konnte. Die fremde, brodelnde Welt entdecken, die sie die ganze Zeit auf ihrer Reise umgab. Menschen, die tatsächlich an Orten lebten, von denen sie noch nie gehört hatte, und die weitermachten, obwohl ihr Alltag offensichtlich nicht viel mehr beinhaltete als end-
lose Plackerei von morgens bis abends. So sah es zumindest aus, hier wie dort. Sie hatte nie an den Sozialismus geglaubt oder an den Kommunismus, was immer da auch der Unterschied war, und als sie ihn nun mit eigenen Augen betrachten konnte, fand sie keinen Grund, ihre Meinung zu ändern. Es lagen ein Grau und eine

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