Einsamen
um die zehn Menschen, verteilt in den Bänken, einfache Orgelmusik war von der Empore her zu hören, und vorn am Altar lief ein schwarz gekleideter Pfarrer herum und war mit irgendetwas beschäftigt. Der Kirchenraum war nicht groß, und er war so gut wie gar nicht geschmückt, vielleicht ist das ein sozialistischer Kompromiss, dachte Gunilla. Man durfte weitermachen, wenn es nicht auffiel. Weg mit dem Tand.
Sie blieb zögernd hinten stehen. Betrachtete das Muster aus Licht und Schatten, das der schräge Strahl der Sonne durch die Fenster zeichnete. Der Staub, der in den Sonnenstreifen wirbelte, etwas an diesem einfachen Bild hielt sie fest. Was tun diese Menschen hier?, dachte sie. Warum sind sie an diesem Morgen hergekommen? Zur Hälfte Männer, zur Hälfte Frauen ungefähr, die meisten schienen älter zu sein. Sie saßen einzeln in den Reihen, und zumindest einige von ihnen schienen ins Gebet vertieft zu sein. Plötzlich spürte sie Neid, aber es war ein ganz merkwürdiger Neid, den sie sich selbst nicht so recht erklären konnte. Als wüssten sie – obwohl es ihnen so viel schlechter ging als ihr – etwas über das Leben, was ihr bisher verschlossen geblieben war. Zumindest ging sie davon aus, dass es ihnen schlechter ging, die beiden Frauen, die in der Bank direkt vor ihr saßen, sahen abgearbeitet und arm aus, und plötzlich dachte sie, dass sie gern mit ihnen gesprochen hätte. Gern hätte sie sich zwischen sie auf die Bank gesetzt und ihnen Fragen gestellt. Wenn sie nur eine gemeinsame Sprache gehabt hätten. In welchen Verhältnissen lebten sie? Hatten sie Kinder? Wie gestaltete sich ihr Leben, wie sahen ihre Sorgen aus, und warum saßen sie hier und beteten? Was hatten sie während des Zweiten Weltkriegs erlebt? Hatten sie Eltern und Geschwister verloren? Für wen beteten sie, und glaubten sie wirklich, dass ihnen jemand zuhörte?
Sie sah selbst ein, dass es naive Gedanken waren – und anmaßende. Plötzlich fühlte sie sich wie ein Eindringling. Wer war sie denn, dass sie einfach herkam, sich wunderte und einmischte? Eine neugierige Fremde ohne Gott und Glauben, mit zwei totgeborenen Kindern, aber dennoch ohne Gott, war das nicht sonderbar? Oder war es gerade das Gegenteil? Wenn man zwei Kinder verlor, verlor man dann auch seinen Gott?
Falls sie jemals einen gehabt hatte. Sie beschloss, in die Sonne hinauszugehen, spürte, dass die Schwermut sie übermannen wollte, aber gerade in dem Moment, als sie sich auf dem Absatz umdrehen wollte, fiel ihr Blick auf einen der Rücken weit vorne rechts in der Kirche. Er gehörte einem langen Mann, der mit gesenktem Kopf dasaß, und irgendetwas an seiner Haltung ließ sie verstehen, dass er deutlich jünger war als die anderen Kirchenbesucher. Als er für einen kurzen Moment den Kopf drehte und den Pfarrer vorn am Altar betrachtete, erkannte sie, dass es Germund war, der dort saß.
Sie brachte es nicht zur Sprache. Weder bei Germund noch bei irgendeinem der anderen. Vielleicht hatte sie überlegte, es Tomas zu erzählen, aber etwas an der Gesamtsituation in dem kleinem Kirchenraum hielt sie davor zurück. An der Stimmung, der Stille, an dem Licht und Dunkel und dem gebeugten Rücken. An ihren eigenen Gedanken dort drinnen.
Außerdem war es ja auch nicht so merkwürdig gewesen. Germund hatte sich für eine Weile in eine Kirchenbank gesetzt – vielleicht nur, um für einen Moment Ruhe zu haben oder die Kühle zu genießen. Es war bereits ziemlich heiß geworden, obwohl es erst elf Uhr am Vormittag war, nein, es würde schwer zu erklären sein, warum sie es so merkwürdig gefunden hatte. Warum dieser kurze Augenblick in der Kirche einen so starken Eindruck bei ihr hinterlassen hatte. Darüber zu sprechen – vielleicht als Erstes mit Germund – hätte ihn zerstört. Vielleicht ist es mit Erlebnissen so, dachte sie, mit allen Erlebnissen; wenn wir sie in Worte fassen, dann gehen sie kaputt. Verändern sich und werden zumindest beschmutzt.
Werden zu etwas anderem.
Das, was man bewahren will, muss man für sich behalten.
Haben andere Menschen auch solche Gedanken?, fragte sie sich am selben Abend, als sie um das obligatorische Feuer saßen und darauf warteten, dass das kleine Spanferkel, das sie hatten kaufen können, durchgebraten war. Oder bin nur ich so zerbrechlich, empfindsam und habe so große Angst ums Leben? Oder Angst vor dem Leben? Auch wenn der Frost aufbrach und die Schmelze irgendwann Oberhand gewinnen würde, so gab es Unterschiede. Zwischen ihr und
Weitere Kostenlose Bücher