Einsamen
Aurelius
geboren 1851
gestorben 1874
Das war alles.
Dreiundzwanzig Jahre, dachte Rickard. Ein junger Mann, der vor fast hundert Jahren gestorben ist. Wurde nur drei Jahre älter, als ich jetzt bin.
Er versuchte die spärlichen Informationen zu deuten. Ein Name und zwei Jahreszahlen, sonst nichts. Wer warst du, Henrik Aurelius? Warum bist du nicht älter geworden?
Und weiter: Woran bist du gestorben? Hast du es geschafft, mit einer Frau zu schlafen, bevor deine Zeit abgelaufen war? Hattest du einen Gott?
Hattest du einen Gott?
Wenn ich wüsste, dass ich in drei Jahren sterben werde, dachte Rickard Berglund, würde ich es dann wagen, mich einem Mädchen zu nähern? Wenn es sowieso keine große Rolle mehr spielte und der Sensenmann alle Verantwortung wegsäbeln würde?
Schon möglich, aber alles andere als sicher.
Oder sollte er eine Tugend aus seinem Zögern machen? Sich so verhalten, wie man es früher getan hatte; zuerst das Priesterexamen wie ein altmodischer Mönch ablegen, dann heiraten und dann erst zur Sache kommen? War es nicht eigentlich das, was er selbst sich wünschte, dass seine zukünftige Ehefrau unberührt sein sollte? Ebenso unberührt wie er selbst? War er in seinem tiefsten Inneren so unmodern? Oder war es eher die äußerste Feigheit, Tugend, aus der Not geboren, und eine peinliche Art und Weise, dem Problem zu entgehen?
Was soll ich als Christ tun?
Vielleicht eine berechtigte Frage trotz allem. Gab es – in diesem letzten bebenden Jahr der revolutionären und umwälzenden Sechziger – in dieser Beziehung eine moralische Haltung für gläubige junge Menschen? Hand aufs Herz?
Rickard Berglund ging nicht davon aus. Er hatte Camus und Sartre gelesen, vermutlich nicht gerade die beste Lektüre für einen zukünftigen Pfarrer. Obwohl Dostojewski auch als Existenzialist angesehen wurde. Als Existenzialist und Christ.
Irgendwo tief im Inneren war ihm klar, dass der Weg zur Frau nicht über Bücher oder Gedanken führte. Weder über Dostojewski noch Kierkegaard oder sonst jemanden. In der Literatur war keine Hilfe zu finden, nur Ablenkung und Ausflüchte, wenn es um diese Dinge ging. Das süße Jucken , diese Formulierung hatte er irgendwo gelesen, es war ein Ausdruck, den er nicht so recht von sich weisen konnte, wie sehr er es auch versuchte, und wenn er den lieben Herrgott um Rat fragte, dann fand er auch nicht gerade die rechte Hilfe. Fast, als wäre das nicht sein Thema. Und so ist es ja wohl auch, dachte Rickard Berglund mürrisch, hatte doch das Christentum in den letzten zweihundert Jahren dieses Thema nur als schuldbeladenes Jucken angesehen.
Was also tun? Sich besaufen und es im Rausch über sich ergehen lassen? Wenn Scham und Schüchternheit nicht vorhanden waren? Wäre das nicht eine radikale Art und Weise, das Problem bei den Hörnern zu packen?
Was hast du gemacht, Henrik Aurelius?
Von dem rauen, moosbewachsenen Stein kam auch keine Antwort. Sterile Fragen, dachte er. Gedanken im Leerlauf, ich bin eine moralische Memme. Er verließ den Friedhof und ging weiter Richtung Luthagen.
Aber der letzte Gedanke hing ihm noch nach. Sich besaufen und es über sich ergehen lassen . Wobei es natürlich auch bei dieser Methode keine Garantie gab. Hoffen, es werde geschehen , kam der Wahrheit wahrscheinlich näher. Rickard war bisher zweimal in seinem Leben betrunken gewesen. Zum ersten Mal vor mehr als einem Jahr, ein paar Wochen vor der Abiturprüfung in Mariestad, und das war der Abend, an dem er begriff, dass die Welt sich in diesem viel beschriebenen Zustand auf eine andere Art, in einem anderen Zustand präsentierte. Verführerisch und verantwortungslos. Verlockend?
Henrietta, ein Mädchen aus der Parallelklasse, hatte ihn geküsst, und irgendwie war es ihm gelungen, ihren Kuss zu erwidern. Er hatte sie auch umarmt, sie an sich gepresst, es hatte nicht länger als eine Minute gedauert, aber die Erinnerung daran, wie ihre Zunge mit seiner spielte, ihr Körper dicht an seinem, ja, das war es natürlich, worum es ging. Ekstase. Schwindel im Blut.
Das zweite Mal, dass er nicht ganz nüchtern gewesen war, das war jetzt im Sommer gewesen, während einer Woche Manöver oben bei Marma. Sie hatten draußen im Wald gezeltet, er hatte zusammen mit seinen Kumpels fünf oder sechs Starkbier getrunken, und im Umkreis von vielen Kilometern hatte es nicht eine weibliche Person gegeben. Keine Ekstase und kein Schwindelgefühl, nur Sorglosigkeit und viel Flüssigkeit in der Blase.
Er kam an der
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