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Einsamen

Einsamen

Titel: Einsamen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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Katedralschule vorbei und rechnete nach. Zehn Wochen, sie hatten jetzt zehn Wochen hinter sich. Es waren drei seit den Ernteferien vergangen, er persönlich hätte gern auf diese freien Tage verzichtet. Er hatte sie daheim in Hova zusammen mit seiner Mutter verbracht, hatte in seinem alten Kinderzimmer im ersten Stock auf dem Bett gelegen und Freud und Jung gelesen, während sie unten in der Küche werkelte und Essen für ihn kochte. Paradoxerweise erschien der Abstand zwischen ihnen doppelt so groß, sobald sie sich unter einem Dach befanden. Das war Pflicht, nichts anderes als Pflicht. Und im tiefsten Inneren fürchtete er, dass sie das genauso empfand.
    Deshalb vermied er es auch, übers Wochenende nach Hause zu fahren. Abgesehen von den Ernteferien war er nur ein einziges Mal in Hova gewesen, seit er eingezogen worden war. Es gab einige, die hier blieben und in der Kaserne schliefen, statt nach Hause zu den Freundinnen, Kumpels und was immer verlockend schien, zu gehen. Rickard gefielen diese freien Samstage und Sonntage. Drei Mahlzeiten, sonst keine Termine, zivile Kleidung, das waren ausgezeichnete Gelegenheiten, die Stadt kennenzulernen. Zusammen mit Helge, einem schüchternen, zurückhaltenden Jungen aus Gäddede – einem Ort, der so weit hoch oben in Norrland lag, dass er es ganz einfach nicht schaffte, für ein Wochenende hin und zurück zu fahren –, stromerte Rickard, mit einem Stadtplan in der Hand und ohne Hast, durch Uppsala und machte sich mit der Gegend vertraut. Der Marktplatz. Der Buchladen von Lundequist. Wasserfall und Stadtpark. Der alte Stadtkern natürlich und der Dom, St. Eriks Platz, die Kaufhalle und das Restaurant Domtrappkällaren. Skytteanum und Gustavianum und die Studentenhäuser der verschiedenen Regionen, die momentan im Sommerschlaf verharrten: von Norrland, Södermanland-Nerike, V-dala, Göteborg, Småland und lilla Västgöta. All die Brücken über den Fyris und eine Tasse Kaffee mit einem Stück Kuchen bei Ofvandahls oder Günther.
    Manchmal ging er in die Kirche, aber nie zusammen mit Helge. Immer allein. Verschiedene Kirchen, natürlich in den Dom und die Dreifaltigkeitskirche, aber auch in die kleineren: Johannes, die Missionskirche, die der Baptisten und sogar die des ehrbaren Erlösers in der St. Persgatan neben den Bahngleisen. Aber wo er auch hinging, welche Gemeinde er sich auch aussuchte, jedes Mal verließ er das Gebäude mit einem Gefühl der Unzufriedenheit. Als wäre etwas nicht erlöst worden. Dann kam ihm seine Mutter in den Sinn; was war das eigentlich für ein Leben, das sie da lebte, war es tatsächlich so einfach, dass sie nur darauf wartete, mit ihrem Pastor da oben im Himmel wieder vereinigt zu werden? Sie war erst zweiundfünfzig, hatte die letzten zwölf Jahre bei der Post in Mariestad gearbeitet, und wenn er daran dachte, dass sie gut und gern siebzig oder achtzig Jahre alt werden konnte, dann spürte er, wie ihn ein Gefühl der Beklemmung überfiel.
    Was für ein Sinn hatte ihr Leben? Als Witwe eines freikirchlichen Pastors in Hova?
    Und mein eigenes?, fragte er sich dann. Diese Frage war unvermeidlich. Was ist an meinem eigenen Leben, das es so viel sinnvoller macht?
    Das waren düstere, schwerwiegende Fragen, und er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, sie an Gott weiterzuleiten, wenn er betete. Manchmal meinte er eine Art dunkle Antwort als Trost zu erhalten, aber meistens nicht. Meist war nur Schweigen. Und die Tatsache, dass er fast immer nur Schweigen aus dieser Richtung erntete, hatte etwas sehr Beunruhigendes an sich.
    Denn genau diese schweren, schicksalsentscheidenden Fragen waren es ja, denen er sich nach seinem Militärdienst widmen wollte. In gut einem Jahr.
    Wenn der Ernst des Lebens begann. Der große Plan. Aber momentan eilte es noch nicht.
    Nein, nichts eilte. Er bog nach links in die Geijersgatan ab, sah, dass es kurz nach fünf war. Zeit, alle dunklen Überlegungen abzuschütteln. Zeit, sich dem Tag zu widmen.
    Krebsessen bei Tomas und Gunilla. Weg mit allen Grübeleien!
    »Hier kommt Rickard, der klügste Kopf im ganzen Regiment!«
    »Blödsinn.«
    Es war nicht klar, ob überhaupt jemand Rickards Protest hörte, denn gerade als er es sagte, wurde er von Tomas fest an die Brust gedrückt.
    Draußen auf dem Rasen war gedeckt, zwischen den Mietshäusern, braun verputzten, dreistöckigen Blocks aus den Dreißigern oder Vierzigern. Solche Klötze von genau dem gleichen Modell gab es auch in Mariestad und in Töreboda; Rickard fand, dass

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