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Einsamen

Einsamen

Titel: Einsamen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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schwarzer Kaffee und zwei weitere Vernehmungen.

13
    H ätte Anna Jonsson die Schuhe mit den flacheren Absätzen angezogen, wäre alles anders gekommen.
    Wie man die Sache auch betrachtete, welchen defätistischen oder politischen Blickwinkel man auch einnahm, um diese Tatsache kam man nicht herum. In der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft, in den Sommermonaten 1970, diskutierten die beiden gern dieses Phänomen, es war ein Stück privater Geschichte, schwer, sie nicht zu hegen und zu pflegen. Besonders an gewissen Abenden, in gewissen zähen Stunden, wenn man keinen großen anderen Gesprächsstoff hatte. Wenn alles, was sonst so einfach und selbstverständlich war, plötzlich schwer und kompliziert erschien. Es gab solche Momente bereits sehr früh in ihrer Beziehung, aber Rickard wusste auch, dass das so sein musste.
    Denn sie waren verschieden, Rickard Berglund und Anna Jonsson, das war offensichtlich, und zum ersten Mal in seinem Leben begriff Rickard diesen Spruch, wonach Gegensätze sich anziehen können. Vielleicht begriff sie es auch, er ging davon aus, aber sie waren beide Amateure in der Arena der Liebe, und deshalb tappte er in dieser Hinsicht etwas im Dunkeln.
    Ihre Lebenswege hatten sich an einem Dienstagabend Ende April gekreuzt. Ausnahmsweise hatte Rickard einmal keine Abendwache, und zusammen mit Helge war er in die Stadt gegangen. Er konnte nicht mehr sagen, ob sie ein genaues Ziel gehabt hatten oder ob sie nur einen Kaffee bei der Güntherschen trinken oder eine Wurst mit Kartoffelbrei am Nybrogrill essen wollten. Vielleicht eine Runde drehen und sehen, ob es interessante Fachbücher im Lundequistschen Laden oder in einem der Antiquariate gab, das machten sie häufiger.
    Auf jeden Fall hatten sie sich für eine Weile bei Bücher-Viktor in der Drottninggatan eingeschlichen. Eigentlich war schon Ladenschluss, aber der legendäre Viktor Persson war kein Mann, der seine Kunden mit der Uhr in der Hand hinausbeförderte – und als sie aus dem überquellenden Antiquariat herauskamen, stellten sie fest, dass ein Demonstrationszug den Schlosshügel hinaufzog. Auf dem Weg zum Vaksala Platz offenbar, das war die übliche Route. Die Spruchbänder waren auch die üblichen, genau wie die Schlagworte. Zumindest soweit Rickard das beurteilen konnte. Es ging um Vietnam, es ging um Südafrika, und es ging um etwas, das PRO-K hieß und von dem weder Helge noch Rickard wussten, was es war.
    Sie blieben auf dem Bürgersteig stehen und sahen, wie die Linken vorbeimarschierten. Diese jungen, glaubensstarken Menschen. Rickard hatte von Professor Hedenius’ Versuch gelesen, den Marxismus dem Christentum gleichzustellen – er hatte beide niedergemacht, und zwar aus den gleichen Gründen, wenn Rickard es richtig verstanden hatte –, und er überlegte, ob er vielleicht versuchen sollte, das Buch in die Hände zu kriegen. War es möglich, dass unter all denen, die hier im gleichen Rhythmus liefen und einen Spruch nach dem anderen skandierten, gläubige Menschen waren? Das war die Frage. Glaubensstärke gleich Glaubensstärke? Wie funktionierte so eine Gedankenwelt dann? Und marxistische Priester in Lateinamerika, von denen hatte er auch gelesen. Wie passte das zusammen? Opium fürs Volk und das alles.
    Er stand tatsächlich dort und dachte über diese Dinge nach, als es geschah. Ein Mädchen im Zug schwankte, stieß einen Schmerzensschrei aus und fiel hin.
    Oder wäre hingefallen, wenn Rickard sie nicht passenderweise aufgefangen hätte.
    Oder war sie ihm direkt in die Arme gefallen? Im Laufe dieses ersten Sommers sollten sie immer mal wieder auf dieses Detail zurückkommen; inwieweit er überhaupt eingegriffen hatte oder ob sie ihn sozusagen einfach getroffen hatte. Da gab es natürlich einen gewissen Unterschied, zumindest in ihrer privaten Symbolwelt. Auf jeden Fall half er ihr, sich auf die Bordsteinkante zu setzen, und er setzte sich gleich neben sie.
    »Was ist passiert?«
    Sie stöhnte und rieb sich den linken Knöchel.
    »Au, au!«
    »Tut es weh?«
    »Es tut scheißweh! Ich muss ihn mir verdreht haben! Au, au!«
    Der Demonstrationszug marschierte weiter. Sie versuchte auf die Beine zu kommen, ließ sich aber gleich wieder zurücksinken.
    »So ein Scheiß. Ich kann nicht weitergehen.«
    Er betrachtete sie verstohlen von der Seite. Sie hatte ziemlich kurzes, dunkelbraunes Haar. Ein schmales Gesicht mit großen, momentan mit Tränen gefüllten Augen. Ihm war klar, dass sie sich ziemlich weh getan haben musste.
    Klein und

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