Einsamen
Gott«, nahm Rickard Berglund nach einer halben Minute den Faden wieder auf. »Doch er wohnt nicht in der schwedischen Kirche. Meines Wissens auch in keiner anderen Gemeinde. Ich habe mehr als dreißig Jahre gebraucht, das zu verstehen, aber wenn man es erst einmal eingesehen hat, dann kann man sich nicht mehr auf eine Kanzel stellen. Zumindest nicht in unseren normalen Kirchen. Gott ist dort nicht anwesend, und ich glaube … ja, ich glaube, dass er sich wegen der Lage der Dinge schämt.«
»Schämt?«, fragte Barbarotti nach.
»Zumindest ist er tief besorgt. Aber ich verstehe nicht, warum er Anna nicht zu sich nimmt …«
Barbarotti nickte und versuchte sein Erstaunen zu verbergen. »Was mich betrifft, so gehe ich nie in die Kirche«, erklärte er. »Aber ich spreche manchmal mit ihm. Meine Frau auch … ich meine, sie ist gläubig, aber sie geht auch nie zu einem Gottesdienst.«
»Die Religion«, sagte Rickard Berglund mit einer Stimme, die plötzlich auf der Scheide zwischen Resignation und Wut balancierte, »die hat nichts mit dem wahren Glauben zu tun, nichts mit dem Gott, der dich liebt und der voller Gnade ist. Die Menschheit hat sich geirrt, hat sich so unbarmherzig verrannt … die Frage ist, ob es überhaupt noch eine Hoffnung gibt.«
Er faltete die Hände und betrachtete die Schachpartie.
»Ich spiele mit mir selbst«, erklärte er, als hinge das in irgendeiner Weise mit seinem Verhältnis zu Gott zusammen. Barbarotti verstand den Zusammenhang nicht so recht und beschloss, nicht näher auf seine eigene ungeklärte Angelegenheit mit dem Herrgott einzugehen. Das anderen Menschen begreiflich zu machen, war nicht so leicht, nicht einmal, wenn es sich um abtrünnige Pfarrer handelte – und es war auch nicht notwendig. Aber an dem, was Rickard Berglund gesagt hatte, war etwas, das ihn berührte, und in der Art, wie er es gesagt hatte, vielleicht auch. Als ob … ja, als ob er tatsächlich wüsste, wovon er sprach. Als wäre es auf einer tiefen, wahren Erfahrung begründet. Dass er auf dem dornigen Weg viel weiter gekommen war als Barbarotti.
Die Kirche zu verlassen, nicht, weil man seinen Glauben verloren hatte, sondern weil man ihn gefunden hatte … ja, das klang merkwürdig, und was immer das auch in sich barg, so musste es sich auf jeden Fall um einen äußerst schmerzhaften Prozess gehandelt haben, das konnte sogar ein einfacher Kriminalinspektor begreifen.
Und jetzt lag die Ehefrau – Lebensgefährtin – dieses abtrünnig gewordenen Pfarrers im Krankenhaus und wurde von einem Krebs gequält, der zweifellos ihr Leben beenden würde, aber offenbar beschlossen hatte, sie vorher bis aufs Äußerste zu foltern.
Ungefähr so ist die Lage der Dinge, konstatierte Gunnar Barbarotti still für sich selbst. Rickard Berglunds Lage. Kein Wunder, dass er alt und müde aussieht. Kein Wunder, wenn er nicht sonderlich an Germund Grooth interessiert ist.
Gunnar Barbarotti beschloss, nicht länger zu bleiben und zu stören, es gab keinen Grund dafür. Berglund hatte ihm eine Stunde zugesagt, dann wollte er zurück ins Krankenhaus.
Wer bin ich denn, dass ich ihn vom Warteraum des Todes zurückhalte?, fragte Barbarotti sich und stand auf. Von der Folterkammer des Krebses?
Während er unter anderen Umständen gern noch eine Stunde dagesessen und sich unterhalten hätte, das spürte er deutlich. Rickard Berglund hatte etwas an sich, das war … beeindruckend?
»Danke für das interessante Gespräch«, sagte er. »Ich hoffe auf jeden Fall, dass Ihre Frau in einer Form ein Ende finden kann, die ein wenig Sinn gibt.«
»Das hoffe ich auch«, erwiderte Rickard Berglund, ohne sich aus seinem Sessel zu erheben. »Es genügt ein dünner Lichtstrahl, mehr begehren wir gar nicht.«
Als Barbarotti auf die Straße trat, hatte es angefangen zu regnen. Ein harter, unerbittlicher Herbstregen, und er dachte, dass das gut zu dem Gespräch passte, das er gerade geführt hatte. Er versuchte gar nicht erst, in irgendeiner Form Schutz zu suchen, sondern ging den ganzen Weg zum Polizeirevier zurück zu Fuß. Berglunds Wohnung lag am Ende der Rosengatan in Rocksta, es dauerte fünfundzwanzig Minuten – genau wie es auch fünfundzwanzig Minuten gedauert hatte, dorthin zu kommen, man sollte sich keine Gelegenheit für etwas Bewegung entgehen lassen –, und am Ende war er ziemlich durchnässt.
Was ihn nicht störte. Verglichen mit Rickard Berglund hatte er keinen Grund zur Klage, aber der Gedanke, er selbst könnte eines Tages an
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