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Einsamen

Einsamen

Titel: Einsamen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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zu
fahren.
    Das brauchte zwar doppelt so lange wie mit dem Flugzeug, aber sie flog nicht gern. Es war auch nicht gerade politisch korrekt, dreihundertfünfzig Kilometer allein hinter dem Steuer zu verbringen, aber dieses Mal war ihr das vollkommen egal. Sie musste über einiges nachdenken, und es gab keinen besseren Ort, das zu tun, als ein Auto mit der richtigen Musik aus den Lautsprechern. Bewegung und Rhythmus. Bei der Entscheidung zwischen Billie Holiday und Edith Piaf entschied sie sich für Letztere, zumindest für den Anfang, die ersten hundert
Kilometer.
    Piaf, dachte sie. Der Spatz. Die auf eine sonderbare Art und Weise erklärte, was es bedeutete, eine Frau auf dieser Welt zu sein – eine leidende, aber lebendige Frau –, nicht durch ihre Worte oder ihr Leben, sondern durch ihre Stimme. Ihr sinnliches Französisch, das so schön war, dass man eine Gänsehaut davon bekam. Wenn ich in Frankreich geboren worden wäre, dachte Eva Backman, dann wäre ich nicht zur Polizei gegangen. Dann wäre ich Sängerin geworden. Daran besteht kein Zweifel. Aber man müsste diesen R-Laut hinkriegen, sonst hätte es keinen Sinn.
    Doch eigentlich sollte sie nicht über den Piafschen R-Laut nachdenken, es gab andere Dinge, die einige Konzentration und Analyse erforderten. Genauer gesagt der so genannte Fall. Die beiden Menschen, deren Tage in der Gänseschlucht außerhalb von Rönninge, zehn Kilometer südlich von Kymlinge, ein Ende gefunden hatten. Maria Winckler und Germund Grooth, gestorben im Abstand von dreieinhalb Jahrzehnten. Selbstgewählt oder nicht? Ein Unfall oder nicht? Es gab nichts, was in einem der beiden Fälle auf irgendeine Form von Verbrechen hindeutete, darüber hatte sie mit Barbarotti bereits vor drei Tagen gesprochen. Genau besehen nichts.
    Andere waren anderer Meinung gewesen. Sandlin war die Sache vor fünfunddreißig Jahren nicht geheuer gewesen, aber es war ihm nicht gelungen, irgendeinen Beweis dafür zu finden. Barbarotti hatte behauptet, er hätte Witterung aufgenommen, schien aber inzwischen seine Meinung geändert zu haben. Wieso das? Sie hatten den Fall nicht besonders gründlich diskutiert, und sie selbst liebäugelte damit, die eigene Meinung zu ändern.
    Oder doch nicht? Es gab nicht viel Handfestes. Wie gesagt. Nicht die Andeutung eines Beweises. Nichts, was jemand gesagt oder getan hatte, deutete darauf hin, das jemand Germund Grooth den Steilhang hinuntergestoßen haben könnte. Oder seine Lebensgefährtin 1975. Keine Indizienkette, nicht einmal einzelne Indizien.
    Nur ein Gefühl und eine Reihe eigentümlicher Umstände. Oder?, dachte Eva Backman rhetorisch. Oder?
    Beispielsweise das fehlende Fahrzeug. Das war so ein Umstand. Wie war Grooth dorthin gelangt? Sie hatten die Buslinien überprüft, die nächste Haltestelle lag mehr als zwei
Kilometer von der Schlucht entfernt. Sorgsen hatte mit einigen Busfahrern gesprochen, aber keiner konnte sich daran erinnern, dass einer seiner Fahrgäste letzten Samstag am Alhamra-Kreisverkehr ausgestiegen war, was die logischste Möglichkeit gewesen wäre. Von Kymlinge zu Fuß zu gehen, hätte ihn beispielsweise mehr als zwei Stunden gekostet. Zweieinhalb.
    Was natürlich nicht unmöglich war. Wenn man darauf aus war, sich das Leben zu nehmen, dann spielte eine kilometerlange Wanderung vielleicht keine so große Rolle.
    Konnte er von jemandem mitgenommen worden sein? Und wenn ja, von wem?
    War er getrampt? Ein einundsechzigjähriger Dozent aus Lund?
    Sie schüttelte den Kopf und lauschte eine Weile der Piaf.
    Je ne regrette rien. Phantastische R-Laute.
    Warum hatte Barbarotti seine Meinung geändert? Da stimmte etwas nicht, aber sie konnte nicht sagen, was. Normalerweise suchte er nicht die bequemste Lösung, es gab andere Kollegen, die dafür bekannt waren, die Ermittlungen abschlossen, sobald sich die Gelegenheit bot – aber nicht Barbarotti.
    Und sie selbst auch nicht. Wahrheitsbesessenheit war sicher ein prätentiöser Begriff, aber wenn es etwas gab, was sie beide antrieb, Backman wie auch Barbarotti, dann war es genau das. Man wollte verdammt noch mal herausfinden, was passiert war. Das war der Grundbolzen sozusagen. Wenn man diese Neugier nicht besaß, dann sollte man nicht zur Kriminalpolizei gehen. Oder?
    Irritierend, dachte sie. Wenn nicht noch etwas anderes dahintersteckte, dann war es auf jeden Fall irritierend.
    Sie versuchte sich an die beiden Gespräche zu erinnern, die sie mit denjenigen geführt hatte, die vor fünfunddreißig Jahren

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