Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman
verschwunden.
Die Pfennigs hatten, wenn sie grad nicht tanzen gingen, immer viel
ferngesehen. Als Vielfernseher wußten sie, daß bei Kindesentführungen den
ersten 72 Stunden eine große Rolle zukam. In jenem Zeitraum galt es, bei den
Ermittlungen entscheiden-de Hinweise zu sammeln. Danach sank die
Wahrscheinlichkeit, das entführte Kind noch aufzufinden, rapide. Der für den
Fall zuständige Kommissar, ein mißmutig und etwas ungepflegt wirkender Mensch
namens Nabel, mit solcherlei Fernsehwissen konfrontiert, verneinte den Eltern
gegenüber, wenn auch nicht vehement, daß dem immer so sein müsse. Immerhin,
meinte er, habe man keine Leiche gefunden, es gebe von daher berechtigte
Hoffnung, daß Sonja am Leben sei und es ihr vielleicht sogar – den Umständen
entsprechend – gutgehe. Von einer Entführung müsse man nach Lage der Dinge zwar
vorrangig ausgehen, das schon, aber nicht alle Entführer einer Fünfjährigen
hegten sexuelle Motive. Gut möglich, daß Sonja irgendwo als eine Art lebendiges Spielzeug gehalten würde. In diesem Fall könne sich zwischen Kind und Entführer bald
schon eine Art, ja, Beziehung, sozusagen, aufbauen, und je mehr Zeit verginge,
desto schwerer würde es dem Entführer fallen, das Kind zu töten. Auch gebe es
die Möglichkeit, daß Sonja von einer Frau geraubt worden sei, die sich einen
Kinderwunsch erfüllen wollte, was zugegeben unwahrscheinlich war, in Anbetracht
dessen, daß Sonja mit ihren fünf Jahren nicht mehr recht ins Beuteschema jener
Täterinnen paßte.
Inzwischen war Sonjas Porträtfoto in allen Berliner Zeitungen
erschienen. Die Medien hatten den Fall ziemlich hochgehängt, schon aus Mangel
an sonstigen spektakulären Ereignissen.
»Mein Kind ist tot!« Sagte Maschjonka am Mittwochabend.
»Ich fühle es!«
Es war düster im Pfennigschen Wohnzimmer, das nur von zwei Kerzen
erleuchtet wurde.
»Sonja ist tot«, wiederholte Maschjonka leise und stierte ins Licht.
Robert nahm seine Frau in den Arm, obwohl er erst daran gedacht
hatte, sie anzubrüllen, so defätistisch, so ungeheuerlich klangen diese im
reinsten Indikativ dahingesagten Sätze. Maschjonka war schon immer so gewesen.
Immer hatte sie zum frühesten Zeitpunkt die größtmögliche Katastrophe in den
Raum gestellt und faktisch anerkannt, wenn bei objektiver Betrachtung
allerhöchstens Anzeichen für etwas Ungewöhnliches vorlagen. So war es gewesen,
als Swentja zum ersten Mal, ohne ihren Eltern davon Mitteilung zu machen, bei
einer Freundin übernachtet hatte. So war es gewesen, als Robert eines Abends
mit einer ehemaligen Schulflamme ausgegangen war und Maschjonka ihm hinterher
auf den Kopf zugesagt hatte, daß er sie wegen dieser Tusse bald verlassen
werde.
Swentja aber war wieder heimgekommen, und Robert hatte zwar
tatsächlich sentimental gefärbten Hotelsex mit ›dieser Tusse‹ gehabt, aber nie
auch nur einen Moment daran gedacht, seine Frau deswegen zu verlassen. Weswegen
er mit ganz gutem Gewissen leugnete, daß da überhaupt irgendwas vorgefallen
sei.
Nein, Maschjonkas Vorhersagen durften nicht überbewertet werden.
Andererseits hatte Robert großen Respekt vor der angeblichen – wissenschaftlich
nie belegten – quasitelepathischen Verbundenheit einer Mutter zu ihrem Kind.
Wenn Maschjonka sagte: » Mein Kind ist tot. Ich fühle es «, dann konnte er das
nicht leichtfertig als Hirngespinst abtun, es war gleichbedeutend mit einem
tiefen Stich in sein Herz, und er haßte seine Frau für solche Sätze, die alle
Zuversicht und Hoffnung in ihm erlöschen ließen. Am liebsten wäre er
hinausgerannt, aus den vier beinahe abbezahlten Wänden hinaus in ein völlig neues
Leben. Aber da lag diese flennende Frau in seinen Armen und machte die
Wirklichkeit zu einer Hölle ohne Ausweg.
Mascha Pfennig schluchzte, sie preßte sich an Roberts Brust, dann
trommelte sie mit beiden Fäusten auf seine Schultern ein. »Mach etwas, bitte
mach doch was, irgendwas!«
2
DONNERSTAG
Janine ging, nachdem sie vier Tage vergeblich auf eine
Nachricht von Uwe gewartet hatte, in die Lebensmittelabteilung des Karstadt am
Hermannplatz. Ihre Absicht war, es wie eine zufällige Begegnung aussehen zu
lassen. Zwei Stunden lief sie zwischen den Regalen herum, im naiven Glauben,
ein Marktleiter müsse sich irgendwann zwischen seinen Produkten blicken lassen,
wie ein Feldherr hin und wieder Reden hält, um seine Soldateska gewogen zu
stimmen. Janine kam sich blöd vor, durchaus, doch sich blöd vorzukommen hieß
noch lange nicht,
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