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Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman

Titel: Einsamkeit und Sex und Mitleid: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Krausser
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wollte nur
seinen Körper. Jederzeit. Für sich. Zur freien Verfügung. Warum meldete er sich
nicht?
    Sibylle, die sich nun auf der sicheren Seite glaubte, ließ
Holger links liegen. Um ihm möglichst schmerzhaft zu verdeutlichen, daß
bürgerliche Besitzverhältnisse ihr Ding einfach nicht sein konnten.
    »Ich möchte heute nacht lieber von Stiefel vergewaltigt werden.«
Sagte sie. Und Stiefel ließ sich nicht lang bitten, griff zu, alle fanden das
okay, nur Holger nicht, er schlug Stiefel ins Gesicht, mit aller Wucht, daß dem
Hören und Sehen verging. Sibylle gestand sich später ein, nichts anderes
erwartet und gewünscht zu haben. Aber für den Moment tat sie, als sei Holger
ein brutaler Patriarch, untragbar für die Gemeinschaft.
    »Dann bin ich daf halt!« rief Holger, immer noch lispelnd, und
entschuldigte sich, halbherzig, für das Blut, das aus Stiefels Nase lief. Aber
an Sibylle gewandt, rief er und ging auf die Knie dabei: »Ich liebe dif und
teile dif mit niemand! Bafta! Und wenn dir daf nicht pafft, leg ich mich heut
nacht noch untern Fug!«
    Sibylle wußte nicht, was sie sagen sollte. Der Kerl war krank. Und
sie mochte ihn. Das war vielleicht noch kranker. Sie mußte eine Entscheidung
treffen. Jetzt mit ihm den Schlafsack zu teilen – ging nicht, es hätte sie in
der Gruppe zuviel Renommee gekostet. Nie vorher hatte Sibylle ihren Stolz wie
eine schwere Last im Nacken gespürt.
    »Komm mit, wir reden draußen!«
    Im Freien ließ sie sich von ihm küssen. Holger drückte sie an sich
und versprach ihr, immer für sie da zu sein, sie gegen alle denkbaren Feinde zu
verteidigen, gegen Menschen, Tiere und Aliens – auch unter Einsatz seines
Lebens. Schwere Geschütze. Sibylle, an so etwas einfach nicht gewöhnt, stellte,
derart romantisch überwältigt, jede Gegenwehr ein.
    Holger bestand sogar darauf, mit Chrissie Frieden zu schließen. Und
die Ratte, als hätte sie alles mitangehört, ließ sich von ihm streicheln.
    »Die hatn Fell, das ift weifer als dein Famhaar.«
    »Und ihr Schwanz is genauso lang wie deiner.«
    Carla war mit ihrem Dasein als Geliebte unzufrieden. Bald
würde sie Thomas sagen, daß zwischen ihnen zwischenmenschlich nichts mehr
laufen würde. Sie hatte ihn satt. Wie unmöglich er sich im Dark-Side-Club
aufgeführt hatte, nur weil ihr spontan eingefallen war, das straffe, dabei
haptisch begeisternde Mittelteil eines wirklich gutaussehenden Mulatten kurz
mal mit der Handfläche zu berühren. Da könne sie sich doch alles mögliche
holen, hatte Thomas gesagt, sie beiseite gezogen und ernsthaft von ihr
verlangt, sich sofort auf der Toilette die Hand mit Seife zu waschen. Sie hätte
ihm beinahe eine geklebt.
    Allerdings war er ihr Chef, und Carla ahnte enervierende
Verwicklungen voraus. Auf beruflicher Ebene würde es Thomas leicht möglich
sein, Rache zu nehmen. Er konnte sie fallen lassen wie eine kalte Kartoffel,
konnte sie gar, wenn er dazu Lust hatte, schnell mal nach Bielefeld versetzen.
Sie hätte sich nie auf derlei einlassen sollen. Ein Alptraum. Man sollte,
dachte Carla, nie die Geliebte eines Mannes werden, der vor seiner Gattin keine
Geheimnisse hat. Es hinterläßt einen praktisch schutzlos.
    Julia König bereitete spätnachts noch eine wichtige
Telefonkonferenz vor, für den nächsten Morgen. Wichtige, millionenschwere
Projekte galt es zu besprechen, und Julia mußte sich allen Eventualitäten
gewachsen zeigen, die Argumente der Gegenpartei vorausahnen und möglichst schon
entkräften, bevor sie laut geäußert wurden. Leider war sie nicht imstande,
einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn das strategische Konzept einer Refutatio zu erarbeiten. Ständig dachte sie an Vincent, den einzigen Mann, der ihr
während der letzten Jahre Eindruck gemacht hatte. Ihr wurde dabei bewußt, wie
schlecht sie an sich über Männer dachte. Ihr Weltbild war desaströs in
Unordnung geraten. Wieder und wieder versuchte sie sich zu konzentrieren.
Rauchte eine Zigarette, obwohl sie den Mief von abgestandenem Rauch in der
eigenen Wohnung verabscheute.
    Vincent, ein, man mußte es so sagen: Stricher. Ein Miethengst. Das
durfte nicht wahr sein. Julia weigerte sich. Allein, es half nichts. Dieser
bigotte, schwer renitente Tugendbold ging ihr einfach nicht aus dem Kopf. Er
war nicht nur in ihrem Kopf, er pochte in ihrem Blut, durchströmte ihren
gesamten Körper. Nur auf eine einzige, leider entscheidende Weise war er eben
doch nicht da.

ZWEITER TEIL

1
    MITTWOCH
    Sonja war seit drei Tagen

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