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Einstein, Orpheus und andere

Einstein, Orpheus und andere

Titel: Einstein, Orpheus und andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Samuel R. Delany
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fragte ich. »In Branning-at-Sea gibt es Millionen Leute?«
    »Bei der letzten Volkszählung gab es drei Millionen sechshundertfünfzigtausend.«
    Ich pfiff. »Das ist ganz schön viel.«
    »Es ist mehr, als du dir vorstellen kannst.«
    Ich schaute über die Drachenherde: nur ein paar hundert.
    »Aber wer hat schon Lust dazu, sich an einer Orgie mit künstlicher Insemination zu beteiligen?« fragte ich.
    »In größeren Gesellschaftssystemen«, sagte Spinne, »muß man so vorgehen. Bis man nicht ein generelles Gleichgewicht der genetischen Reserven erreicht hat, kann man nur eines tun: die Gene mischen, mischen, mischen. Aber wir sind stammesbewußt geworden, und in Orten wie Branning-at-Sea mehr als in den Bergen. Wie soll man erreichen, daß Leute nicht mehr als ein Kind mit dem gleichen Partner haben? In einer hinterwäldlerischen Siedlung sorgen ein paar ausschweifende Nächte dafür, so ziemlich jedenfalls. In Branning muß der Erfolg durch mathematische Kalkulation sichergestellt werden. Und es sind Familien entstanden, die sehr froh wären, wenn sie anfangen könnten, ihre Kinderzahl zu verdoppeln, wenn man sie nur ließe. Jedenfalls, Grünauge kümmert sich nur um seine eigenen Angelegenheiten, nur sagt er gelegentlich sehr schockierende Sachen zu den falschen Leuten. Die Tatsache, daß er anders ist, daß er immun gegen Kid Death ist, aus einer angesehenen Familie stammt und recht sparsam in der Beobachtung der Rituale, das alles macht ihn zu einer ziemlich umstrittenen Figur. Alle geben sie seiner jungfräulichen Geburt daran die Schuld.«
    »Auch wo ich herkomme, ist man bei so was mißtrauisch«, sagte ich zu Spinne. »Es bedeutet, daß seine genetische Struktur mit der seiner Mutter identisch ist. Und das klappt nie. Wenn das oft genug passiert, dann werden wir alle in kürzester Zeit zu dem großen Rock und dem großen Roll zurückkehren.«
    »Du hörst dich an wie einer von den schwülstigen Trotteln in Branning.« Er wirkte verärgert.
    »Hm? Ich habe doch nur gesagt, was ich gelernt habe.«
    »Denk doch ein bißchen weiter. Jedesmal wenn du so was sagst, bringst du Grünauge dem Tod ein bißchen näher.«
    »Was?«
    »Sie haben schon früher versucht, ihn zu töten. Warum, glaubst du, hat man ihn fortgeschickt?«
    »Oh«, sagte ich. »Aber warum kommt er dann zurück?«
    »Er will es so.« Spinne zuckte die Achsel. »Ich kann ihn ja nicht gut festhalten, wenn er das will.«
    Ich grunzte. »So wie du’s erzählst, klingt Branning-at-Sea nicht gerade nach einem sehr angenehmen Ort. Zu viele Leute und die Hälfte davon Verrückte, und sie wissen noch nicht mal, wie man eine Orgie feiert.« Ich hob meine Klinge. »Für solchen Quatsch hab’ ich keine Zeit.«
    Die Musik klagte aus Spinne. Ich spielte helle pfeifende Töne.
    »Lobey.«
    Ich wendete mich nach ihm um.
    »Etwas geschieht, Lobey, jetzt, etwas, das früher schon geschehen ist, früher, als die andern noch hier waren. Viele von uns sind beunruhigt darüber. Wir haben die Geschichten über das, was geschah, und wir wissen, wohin es führte, als es anderen geschah. Es ist vielleicht sehr, sehr ernst. Wir alle können dabei zu Schaden kommen.«
    »Ich habe die alten Geschichten satt«, sagte ich. » Ihre alten Geschichten. Wir sind nicht sie; wir sind neu, neu auf dieser Welt, neu in diesem Leben. Ich kenne die Geschichten von Lo Orpheus und Lo Ringo. Und das sind die einzigen, die mir was bedeuten. Ich muß Friza finden.«
    »Lobey …«
    »Dieses andere geht mich nichts an.« Ich pfiff einen schrillen Ton. »Weck deine Hirten auf, Spinne. Die Drachen müssen getrieben werden.«
    Ich peitschte mein Reittier im Galopp vorwärts. Spinne rief nicht wieder nach mir.
     
    Ehe die Sonne im Apogäum stand, ritzte der Rand der City den Horizont. Während ich in der schwindenden Hitze die Peitsche schwang, wandelte ich Grünauges letzte Worte um, schlug Gedanken im Rhythmus wie Takte: Wenn es Tod gab, wie könnte ich Friza zurückgewinnen? Daß Liebe genug sei, wenn sie weise und klar und mutig war. Oder, beim Gedanken an La Dire, die mich verbessert hätte: Es gibt keinen Tod, nur Rhythmus. Als der Sand hinter uns sich rötete und die lahmenden Tiere auf dem festeren Boden rascher zu gehen begannen, holte ich mein Messer hervor und spielte. Die City lag hinter uns.
    Die Drachen liefen jetzt leicht durch den Busch. Ein Bach wand sich durch das wellige Land, und die Tiere blieben stehen, tauchten planschend die Köpfe ins Wasser, scharrten mit den

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