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Einstein, Orpheus und andere

Einstein, Orpheus und andere

Titel: Einstein, Orpheus und andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Samuel R. Delany
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Büschen irgendwo. Keine Musik.
    Während ich so schaute, fing es an zu regnen. Manchmal geschehen schmerzliche Katastrophen. Anschließend folgt dann ein kleines oder sogar angenehmes Ereignis, und du weinst. Regen zum Beispiel. Ich weinte.
    »Lobey.«
    Ich blickte wieder in die Höhe.
    Rechts von mir, ein paar Fuß höher, kniete Kid Death auf einer Steinplatte.
    »Kid …?«
    »Lobey«, sagte er und schüttelte das nasse Haar aus der Stirn zurück, »ich rechne damit, daß du es da siebenundzwanzig Minuten aushältst, ehe du vor Erschöpfung über die Kante gehst. Also werde ich sechsundzwanzig Minuten warten, ehe ich was unternehme, um dein Leben zu retten. Okay?«
    Ich hustete.
    Als ich ihn jetzt so nahe sah, schätzte ich ihn auf sechzehn oder siebzehn – oder vielleicht auf einen babygesichtigen Zwanzigjährigen. Seine Haut an den Handgelenken, im Nacken und unter den Armen war runzelig.
    Regen tropfte mir immer wieder in die Augen; meine Handflächen brannten, und das, woran ich mich festhielt, wurde schlüpfrig.
    »Hast du schon mal einen guten Western gesehn?« Er schüttelte den Kopf. »Schade. Nichts mag ich lieber als Western.« Er fuhr sich mit dem Zeigefinger unter die Nase und schniefte. Regen tanzte auf seinen Schultern, als er sich vornüber beugte, um mit mir zu sprechen.
    »Was ist ein ›Western‹?« fragte ich. Die Brust tat mir immer noch weh. »Und meinst du das im Ernst, daß du mich hier –« Ich hustete wieder. »– mich hier sechsundzwanzig Minuten hängen lassen willst?«
    »Das ist eine Kunstform der Alten Rasse, der Menschen, aus der Zeit vor uns«, sagte Kid Death. »Und zweitens, ja, es ist mein Ernst. Folter ist auch eine Kunstform. Ich möchte dich erst in letzter Minute retten. Aber während ich warte, möchte ich dir was zeigen.« Er deutete zum Rand des Weges hinauf, über den ich gerollt war.
    Friza blickte herunter.
    Ich hörte auf zu atmen. Der Schmerz in meiner Brust explodierte, meine aufgerissenen Augen brannten vom Regen. Dunkles Gesicht, schmale nasse Schultern, dann sehen, wie sie den Kopf wendet (Geröll rutscht unter meinem Bauch, die Peitschenschnur immer noch um meinen Hals, der Griff pendelt gegen meine Hüfte), um mit dem Mund Regen aufzufangen. Sie blickt wieder her, und ich sah (oder hörte ich es?), wie erstaunt sie war, daß das Leben zurückgekehrt war, und wie verwirrt über den Regen, über diese verkrümmten Felsen, über die Wolken. Strahlender Triumph pulsierte hinter diesen Augen über mir. Hätte sie meinen Namen aussprechen können, sie würde ihn gerufen haben. Sah mich jetzt, streckte impulsiv die Hand nach mir aus (hörte ich ihre Furcht?). »Friza!«
    Das war ein Schrei.
    Du und ich, wir wissen, welches Wort ich schrie. Aber niemand sonst der den keuchenden Ton hörte, den meine Lungen hinauspreßten, würde es erkannt haben.
    Und all das, versteht mich richtig, in dem kurzen Moment, den man braucht, im Regen die Augen zu öffnen, einen Tropfen von den Lippen zu lecken, dann das wahrzumachen, was vor einem liegt, und zu erkennen, es ist jemand, den du liebst, und er stirbt und versucht deinen Namen zu rufen. Das tat Friza dort an der Wegböschung.
    Und ich schrie weiter.
    Und Kid Death zwischen uns beiden kicherte.
    Friza begann rechts und links nach einem Weg zu suchen, um zu mir ’runterzukommen. Sie erhob sich, verschwand, war eine Sekunde später wieder da, bog einen Baumsprößling über den Wegrand.
    »Nein, Friza!«
    Doch sie begann herunterzuklettern, Erde und kleine Steine schossen unter ihren Füßen davon. Dann, als sie an der Spitze hing, die Linie ihres Körpers dunkel gekrümmt auf dem Fels, faßte sie den Peitschengriff – weder mit ihren Händen noch mit ihren Füßen, sondern eher so, wie sie einst den Stein geworfen hatte, wie Spinne einst einen Zementblock umgekippt hatte; sie packte den Griff, wo er hing, neben meiner Hüfte, zog daran, hob ihn hoch, spannte sich an, bis der Regen auf ihrem gekrümmten Körper schimmerte, knotete den Griff über der ersten Astgabel um den Baumschößling. Sie begann zurückzuklettern, Stemmschwung eines Arms, weg, stemmen, weg. Halt um Halt zur Straße hinauf. Immer wieder ging es mir durch den Kopf: da erwacht sie von einem wie viele Tage langen Tod, nur einen Augenblick vom Jenseits entfernt, ehe sie sich in die Rettung des Lebens stürzt, das unter ihr verrinnt. Sie tat es, um mich zu retten. Sie wollte, daß ich die Peitsche packe und mich zu dem Baum, dann mit Hilfe des Baums zur

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