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Einstein, Orpheus und andere

Einstein, Orpheus und andere

Titel: Einstein, Orpheus und andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Samuel R. Delany
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mehr benutzt. Dennoch, die Strahlung ist immer noch da. Je mehr wir – nach dem Bild des Menschen gemacht – zu komplizierteren Geschöpfen werden, desto schwerer ist es für uns, vollkommen zu bleiben: es gibt größere Variationsbreiten bei den Normalen, und die Käfige füllen sich mit Ausschuß. Und da haben wir nun dich, Lobey.«
    »Aber was hat das alles mit Mythologie zu tun?« Ich hatte sein Monologisieren satt.
    »Erinnerst du dich an meine erste Frage?«
    »Was ich von Mythologie verstehe?«
    »Und ich möchte eine Gödelsche, keine Einsteinsche Antwort. Ich will nicht hören, was in den Mythen drinsteht, noch wie sie klingen und einander zum Tönen bringen, ihre glitzernden Kerne, ihre Grenzen und ihre Entstehung. Ich will ihre Gestalt, ihre Textur, wie sie sich anfühlen, wenn du sie auf einer dunklen Straße streifst, wenn du siehst, wie sie sich in den Nebel zurückziehen, ihr Gewicht will ich wissen, wenn sie dir von hinten auf die Schulter springen. Ich will wissen, wie du dich zu dem Gedanken stellst, drei zu tragen, wenn du schon zwei trägst. Wer bist du, Lobey?«
    »Ich bin … bin ich Lobey?« fragte ich. »La Dire hat mich einmal Ringo und Orpheus genannt.«
    Spinne hob das Kinn. Seine Finger, die das Knochengesicht umschlossen, berührten einander an den Spitzen. »Ja, das habe ich mir gedacht. Weißt du, wer ich bin?«
    »Nein.«
    »Ich bin Grünauges Ischariot. Ich bin Kid Death’ Pat Garrett. Ich bin der Richter Minos am Tor, den du mit deiner Musik verführen mußt, bevor du überhaupt weitergehen darfst, um Kid anzuflehen. Ich bin jeder Verräter, den du dir jemals vorgestellt hast. Und ich bin ein Drachenbaron, der versucht, zwei Frauen und zehn Kinder zu ernähren.«
    »Du bist ein bedeutender Mann, Spinne.«
    Er nickte. »Was verstehst du von Mythologie?«
    »Also, jetzt fragst du mich das zum drittenmal.« Ich nahm meine Klinge auf. Aus mahlender Liebe, die ihr Schweigen singen wollte – die Musik hatte jetzt aufgehört –, legte ich die Klinge gegen die Zähne.
    »Beiß dich durch die Schalen zur Bedeutung dessen durch, was ich sage, Lobey. Ich weiß so viel mehr als du. Wir Schuldigen haben die Erleichterung, daß wir wissen.« Immer noch hielt er den Schädel über dem Tisch. Es wirkte, als böte er ihn mir an. »Ich weiß, wo du Friza finden kannst. Ich kann dich durch das Tor gehen lassen. Obwohl Kid Death mich vielleicht töten wird, will ich, daß du das weißt. Er ist jünger, grausamer und viel stärker. Machst du weiter?«
    Ich ließ die Klinge sinken. »Es ist abgemacht!« sagte ich. »Ich werde versagen! La Dire sagte, Orpheus hat versagt. Du versuchst mir zu erklären, daß diese Geschichten uns genau erzählen, was passieren wird. Du hast mir immer wieder gesagt, daß wir sehr viel älter sind, als wir zu sein glauben; das ist alles symptomatisch für eine Realität, die nicht verändern kann! Und gerade jetzt hast du mir gesagt, daß ich versagt habe, sobald ich beginne.«
    »Glaubst du das?«
    »Das hast du jedenfalls gesagt.«
    »Je mehr wir fähig werden, mehr und mehr aus unserer Vergangenheit zu bewahren, desto länger und länger dauert es, bis wir alt werden, Lobey. Alles wandelt sich. Das Labyrinth hat heute nicht die gleichen Irrgänge wie in Knossos vor fünfzigtausend Jahren. Vielleicht bist du Orpheus; vielleicht bist du ein anderer, der den Tod herausfordert, und es glückt ihm. Grünauge geht vielleicht heute abend zu dem Holz und hängt dort und verwest und steigt niemals wieder herab. Die Welt ist nicht die gleiche. Das habe ich versucht dir klarzumachen. Sie ist anders.«
    »Aber …«
    »Es gibt heute noch genauso viel Ungewißheit und gespannte Erwartung wie damals, als der erste Sänger aus seinem Lied erwachte und den Wert des gleichzeitigen Opfers begriff. Du weißt nichts, Lobey. Dies alles kann ein falscher Ton sein, bestenfalls eine vorübergehende Dissonanz in den Harmonien des großen Rock und des großen Roll.«
    Ich dachte eine Weile nach. Dann sagte ich: »Ich möchte fortlaufen.«
    Spinne nickte. »Irgendein Maurer hat die doppelköpfige Labrys auf den Steinen in Pheistos aufgestellt. Du trägst ein zweischneidiges Messer, das singt. Man kann sich fragen, ob Theseus das Labyrinth baute, während er durch es hindurchging.«
    »Das glaube ich nicht«, antwortete ich, verteidigend und kalt. »Die Geschichte geben dir ein Gesetz, nach dem du dich richten kannst …«
    »Das du entweder befolgen oder brechen kannst.«
    »Sie setzen dir ein

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