Einsteins Gehirn: Kriminalroman (German Edition)
Zentrifugendeckels die Finger verbrannte). Aber was ich
wirklich bin, das bin ich doch hoffentlich dank Freiheit und Selbstbestimmung und
nicht bloß weil die Gene oder die Gesellschaft es so wollten?
Dass ich
nun hier auf dem Podium für Sie den Affen Marat spielen soll, ist, gelinde gesagt,
eine Frechheit, ein Verbrechen an der menschlichen Selbstbestimmung. Damals hätte
es Amont den Kopf kosten können – in dieser Zeit, nun ja, muss man sich wohl bescheiden,
wie ich hörte. Man ist neuerdings so souverän und frei in seinem Tun geworden, dass
halb Europa unter Wasser steht. Der Treibhauseffekt hat uns in den Genuss kürzerer
Wege zur Küste kommen lassen. Das spart Energie und macht das Strandleben und Segeln
der Pariser auch am Feierabend möglich. Wann in den vergangenen Jahrtausenden hatte
man schon einmal die Gelegenheit zu so ausgedehnten Deichwanderungen? Hübsche Entwicklung,
oder?
Apropos
Strandleben: Als ich mich in der Anstalt auf diesen Vortrag zum dreihundertsten
Jahrestag der Revolution vorbereitete, vertrat jemand die bemerkenswerte These,
dass die Proklamation der Menschenrechte nur deshalb auf so fruchtbaren Boden fiel
– ins Wasser, kann man auch sagen, in jenes Element also, aus dem alles Leben kam
–, weil große Teil der Dritten Welt abgesoffen sind. Dieser Witzbold behauptet tatsächlich,
dass Freiheit, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit nur deshalb in den zivilisierten,
über die Wasseroberfläche ragenden und durch Deiche geschützten Teilen der Welt
Wirklichkeit geworden seien, weil man die Armen, denen schon wegen ihrer großen
Zahl niemals Freiheit, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit widerfahren konnte, ganz
einfach durch eine stetige und gesteuerte Zunahme der Temperatur in der Atmosphäre
ersaufen ließ! – Während sich der besser gestellte Rest (damit meint er uns, verehrte
Damen und Herren) dank seiner geistigen und materiellen Ressourcen retten konnte
…
Ich lehne
diese durch nichts zu belegende These entschieden ab. Und glauben Sie mir, ich denke
dabei durchaus nicht nur an mein morgendliches Porridge und meine Aperitifs. Oder
weil man sich meinen Vortrag offensichtlich als eine Art Glorifizierung der herrschenden
Verhältnisse aus berufenem Munde gedacht hat. Nun ja, man wird sehr genau auf meine
Worte achten, zugegeben – aber ich halte diese Rede schließlich um der wissenschaftlichen
Wahrhaftigkeit willen.
Das letzte
Jahrhundert war nun einmal eine Zeit der Überschwemmungen, die Historiker, die jedem
Kind einen Namen geben müssen, nennen es bereits Das Säkulum des Wassers .
Aber daraus gleich ein kapitalistisches Komplott machen zu wollen? Dass die Industrienationen
glimpflich davonkamen, während in der Dritten Welt weite Landzonen und vor allem
die großen Küstenstädte aufgegeben werden mussten, ist, wie jeder weiß, hauptsächlich
auf die technologische Überlegenheit der zivilisierten Welt zurückzuführen. Nur
sie war in der Lage, gewaltige Deich- und Sielsysteme zu bauen. Sie allein konnte
die finanziellen und technischen Mittel aufbringen – wenn auch nur mit allergrößten
Anstrengungen –, um Köln und Lübeck, New York und Paris und viele Tausend Kilometer
Küstenstreifen durch jene Deiche zu schützen, auf deren Kronen sich heutzutage so
vortrefflich wandern und spazieren gehen lässt.
Aber ein
Narr, wer glaubte, solche Anstrengungen seien auch für die Dritte Welt denkbar gewesen!
Was hatte
sie sich selbst und anderen denn mehr zu bieten als Rohstoffe und billige Arbeitskräfte?
Ein Projekt, das die Dritte Welt vor den steigenden Wassern und dem Untergang schützte,
meine hochverehrten Damen und Herren, hätte in den westlichen Zivilisationen zahlreiche
Kulturgüter und Naturdenkmäler dem Untergang preisgegeben.
Wären Sie
wirklich bereit gewesen, die Lüneburger Heide oder das Nordseewatt für eine unterentwickelte
Großstadt der Dritten Welt wie zum Beispiel Mombasa oder Luanda zu opfern? Das Hermannsdenkmal
für Schanghai? Die Loireschlösser für Mexiko City? Man kann nicht alles haben.
Die Meinung
jenes Vollidioten, wir seien nur deshalb in den Genuss von Freiheit, Gleichheit,
Brüderlichkeit gekommen, weil wir all jene, für die am großen Topf kein Platz mehr
war, kläglich ersaufen ließen, widerlegt sich selbst. Zunächst einmal: Als das Wasser
stieg, ersparte es nicht nur zahllosen hungrigen Mäulern ein Leben voller Entbehrungen
und Schmerzen – ertrunken ist man in 20 Sekunden, Hungers zu sterben, kann Wochen
dauern –, sondern
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