Einundzwanzigster Juli
erzählen«, murmelt er, bevor er für einige Minuten verschwindet und mit mehreren Bechern Milch zurückkehrt, auch zahlreichen Äpfeln, die er uns in die Taschen steckt. Und als wir mit dem Strohsackstopfen fertig sind, lässt er uns nicht gehen, ohne jedem die Hand gedrückt zu haben.
Wenn es stimmt, dass das Gesicht eines Menschen seinen Lebenswandel widerspiegelt, dann stelle ich mir lieber nicht vor, wie die Vergangenheit unserer Bewacherinnen ausgesehen haben muss. Aus Regensburg hat der Bader, als hätten wir nicht genug SS vor Augen, drei stämmige Unterführerinnen mitgebracht, die einander in Hässlichkeit und Abgestumpftheit dermaßen ähneln, dass man sie gerade noch am Alter auseinanderhalten kann. Die drei sollen für unsere mittlerweile fast siebzig Personen umfassende Schar kochen, eine Aufgabe, der sie sich mit größtmöglicher Gleichgültigkeit annehmen.
»Hundsessen! «, spuckt die sonst so leidensbereite Nanni, und Fräulein Vermehren meint hintergründig: »Wie sie es fertigbringen, aus Speck und Kartoffeln ein Wassersüppchen zu zaubern, bleibt ihr Geheimnis.«
Dass Speck und Kartoffeln von einer kleinen Abordnung der Dorfbewohner für uns abgegeben wurden, haben die Goerdelers durchs Fenster des Schulhauses beobachtet. Geahnt, warum unsere Wachmannschaft kurz danach so satt und zufrieden wirkte, haben wir alle.
»Eigentlich«, meint Julius, »sind sie doch ein erbärmlicher Haufen. Haben keine Ahnung, was sie mit uns anfangen sollen. Würden am liebsten selbst zu den Amis überlaufen. Trauen sich nicht, weil sie Angst haben vor den eigenen Kameraden, und klauen stattdessen unser Essen.«
»Diebstahl von Lebensmitteln als Ausdruck von Zukunftsangst«, murmelt Max. »Interessante Theorie.«
»Nun hört schon auf!«, ruft Fey. »Mir ist völlig egal, warum sie es tun. Ich habe Hunger, ich bin wütend, und ich bin der Meinung, wir dürfen uns das nicht gefallen lassen.«
»Und ich«, sagt Mutter und schlägt gegen die Tür, »will endlich hier raus!«
Das leere Schulzimmer, in dem wir eingesperrt sind, hat trotz der vielen Flüchtlinge, die bis vor zwei Tagen hier campiert haben, seinen Geruch nach Kreide, Tinte und staubigen Landkarten nicht verloren. Wie in einer Hügellandschaft verteilen sich unsere Jutesäcke und Gepäckstücke auf dem Fußboden, der blank gewetzt ist von Generationen ungeduldiger Füße, die unter den Bänken gescharrt haben. Man erkennt, wo die Bänke standen und wo der Mittelgang gewesen sein muss, in dem der Lehrer auf- und abging mit dem Rohrstock in der Hand. Angst und Gewalt sind dem kleinen Raum nicht fremd, und er tröstet uns mit einem einzigartigen Ausblick auf Berge und Tannenspitzen.
Wir sind sechzehn auf dem Zimmer, sämtliche Lautlitzer und Hofackers zusammen, dazu Fey, die praktisch zur Familie gehört. Die meisten unserer übrigen Reisegefährten verteilen sich auf zwei weitere abgesperrte Klassenräume der Jungenschule. In einem Zimmer der Lehrerwohnung im Stockwerk über uns hat man die Blums untergebracht und wir können die Wachen vor der Tür hin- und hergehen hören. Die Passagiere der grünen Minna sitzen in einer benachbarten Mädchenschule, streng von uns getrennt.
Mutter Kuhn, versichert man, erhole sich. Schon in Buchenwald war sie schwächer und schwächer geworden und hatte die Zeit hauptsächlich im Bett verbracht, auf die Amerikaner wartend. Ihre Aufregung und Enttäuschung über den neuerlichen Transport war gekrönt worden von der bitteren Erfahrung, statt in die Freiheit entlassen in ein echtes Gefängnis gesperrt zu werden, wo sich zum ersten Mal eine echte Zellentür hinter ihr schloss. Aus der Zelle, die sie am Abend zu Fuß betreten hatte, musste sie am Morgen herausgetragen werden.
»Es liegt bei Ihnen«, hatte der arme Dr. Goerdeler, zittrig und mitgenommen vom Tod seines Bruders, wieder einmal einem Transportführer auseinandersetzen müssen. »Frau Kuhn muss behandelt werden, sie braucht Herzmedikamente und Ruhe. Ich kann«, sagte er und es muss ihm vorgekommen sein wie eine Rückblende nach Reinerz, Stutthof, Matzkau und in einen Viehwaggon vor Berlin, »unter diesen Umständen keine Verantwortung übernehmen.«
Tatsächlich war an diesem Morgen ein Arzt aus dem Ort gekommen und hatte Frau Kuhns Einweisung ins »Spital« angeordnet. »Wann können wir sie besuchen?«, liegen Nanni und Vater Kuhn dem Bader seither in den Ohren und bekommen zur Antwort: »Bald. Vielleicht. Sie werden sehen.«
Aus dem Nebenzimmer sind
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