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Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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ohne Julius und seine Familie, ohne Onkel Teddy. Meine Hände sind schweißnass. Hinter uns murmeln die Ungarn, es klingt beunruhigt.
    Nach einer gefühlten ganzen Nacht, in Wirklichkeit kaum einer halben Stunde, biegen wir plötzlich in einen Waldweg ein und kommen an einer Lichtung zum Stehen, wo der Fahrer wortlos aussteigt.
    Wird es schnell gehen? Mit trommelndem Herzen starre ich auf die offene Eingangstür. Welcher Körperteil wird am meisten wehtun? Hätten wir eine Chance gehabt, wenn wir weiter hinten im Bus gesessen hätten?
    Ich denke an den Brief für Vater, den Lexi nach Berlin mitgenommen hat. Ich bin froh, dass ich ihn noch geschrieben habe!
    Ich versuche, als Letztes an etwas Schönes zu denken, und sehe Gesichter ... Mutter und Vater und Fabian und Lexi, und Max, Omama und Onkel Yps mit seiner Kerze. Als ob von allem Schönen in meinem Leben das Wichtigste erst zuletzt geschehen wäre! Julius und Nanni und Ina und Fey und die tapfere Tante Sofie.
    Draußen blitzt Licht auf, doch es sind nur die Scheinwerfer mehrerer Wagen, die langsam auf uns zurollen. Mit einem Riesensatz, der die gesamte Menschenfracht hinter mir hörbar zusammenzucken lässt, springt der Fahrer in den Bus zurück. Er wühlt in der Lade neben dem Sitz und fördert eine Straßenkarte zutage, mit der er wieder aussteigt. Ich sehe mehrere Männer sich im Scheinwerferlicht über die Karte beugen.
    Und meine kleine Lebensuhr, vorübergehend angehalten am 4. April um kurz nach Mitternacht, beginnt leise wieder zu ticken. »Sie fahren weiter!«, flüstert Mutter.
     
    Untersturmführer Bader hat ein flaches, eckiges Gesicht, in dem sich zwei tiefe Mundfalten wie feindliche Gräben gegenüberstehen; breit und struppig schweben schwarze Balken über kalten, grauen Gucklöchern, aus denen er uns anstarrt, ohne etwas preiszugeben. Wo bei anderen Leuten die Augen sitzen, liegt beim Bader etwas, womit keiner von uns Bekanntschaft machen möchte.
    Seine Wut, als sie endlich aus ihm herausbricht, ist fast eine Erleichterung, so menschlich und ohnmächtig kommt sie daher. »Und wohin jetzt mit euch?«, schreit er uns während einer Pinkelpause im Wald an, als ob wir irgendetwas dafürkönnten.
    Vor welchem Tor unser kleiner Konvoi in den letzten zwanzig Stunden Einlass begehrt hat: Man wies uns ab wegen Überfüllung! Flossenbürg ist voll, ein zweites Lager bei Regensburg auch, selbst in Dachau, offenbar dem Ziel unserer Fahrt, wird der Bader uns nicht los.
    »Schloss Walcheren ist ganz in der Nähe«, bemerkt Markus mit gedämpfter Stimme, aber hörbar.
    Der Bader schnaubt: »Das könnte euch so passen«, und geht noch einmal telefonieren.
    Wahrscheinlich brüllt er die vorherigen Insassen des Regensburger Gefängnisses einfach raus. Als wir es beziehen, sieht es aus wie fluchtartig verlassen: dreckig, völlig verwanzt, die Küche angeblich geschlossen.
    »Wir wol-len Es-sen! Wir wol-len Es-sen! «
    Keine Ahnung, wer damit angefangen hat – plötzlich donnert es rhythmisch an sämtliche Türen. In unserer Zelle sind es Mutter und Fey, die mit besonderer Inbrunst teilnehmen, während Ina und ich vor allem damit befasst sind, tödliche Schläge gegen die Wanzen zu führen.
    Ein Aufstand! Ängstlich lausche ich dem Radau und male mir das Gesicht vom Bader aus. Als die Klappe in der Zellentür auffliegt, sehe ich es schon leibhaftig ...
    »Komm ja schon, komm ja schon«, brummt der Wachmann und schiebt vier Blechnäpfe mit Suppe, vier dicke Scheiben Brot und vier Becher Kaffee zu uns hinein.
    »Das ist der Untergang«, stellt Mutter fest, während wir auf den Pritschen sitzen und essen. »Wenn sie sich das gefallen lassen, müssen sie am Ende sein!«
    Am nächsten Tag trommle ich mit. Wir trommeln so lange »Wir wollen raus!«, bis sie die Zellen öffnen und wir im Gang umherspazieren und nachsehen können, wer alles da ist.
    Für jemanden, der eben noch von unserer bevorstehenden Auslöschung überzeugt war, ist es erstaunlich zu sehen, wie wir uns vermehrt haben. Diverse Diplomaten! Ein Neffe Molotows! Drei echte britische Geheimagenten! Die sind nicht mehr die Allerjüngsten; schon vor Jahren sind sie mit Fallschirmen abgesprungen, um Kontakt zum deutschen Widerstand aufzunehmen, aber es war eine Falle und sie wurden an der holländischen Grenze geschnappt. Einer von ihnen – lang, hager, mit Monokel, Flanellhose und karierter Jacke – heißt Major Payne-Best und Julius behauptet, er sei das berühmteste Entführungsopfer Deutschlands.
    Sofort

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