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Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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die munteren Klänge der Ziehharmonika zu hören, die ein Wanderlied spielt, gefolgt von einem zweiten und einem dritten. Das schlaue Fräulein Vermehren! Sie scheint ans Unterbewusstsein der Wachen rühren zu wollen: Jungs, wir wissen, dass auch ihr euch gern die Füße vertreten würdet!
    Ihre Taktik geht auf. Am nächsten Morgen gibt der Bader unseren wiederholten Bitten ganz überraschend statt und lässt uns ins Freie – begleitet von einer mild gestimmten kleinen Wachmannschaft, die aussieht, als hätte sie seit etwa sechzehn Stunden über nichts anderes als Spaziergänge nachgedacht.
    Für welche der beiden Gruppen der Anblick verstörender ist, lässt sich bei unserer Begegnung auf der Dorfstraße schwer feststellen: für die Schönberger die zerlumpte Kolonne, die sich unter Begleitung von Uniformen, Mützen und Maschinenpistolen zum Freigang begibt; für die Gefangenen der Anblick der Menschen im Sonntagsstaat, der geschmückten Häuser und aufgeregten Kinderschar, die vor der Kirche Aufstellung nimmt. Mädchen ganz in Weiß mit Kränzen und Schleifchen im Haar, Jungen in gestärkten Kommunionanzügen, Gebetbuch und Kerze fest in der Hand.
    Weißer Sonntag! Stumm und verzaubert bleiben wir stehen und sehen die Kinder unter den Klängen der Orgel einziehen. Erschrockene, fast entschuldigende Blicke treffen uns – wir erkennen unseren Bauern, den Bäcker, der die Lebensmittelspenden gesammelt hat –, bevor der Küster als Letzter die Kirche betritt, zögert ... und dann doch mit ratlosem Gesicht die Tür schließt und uns aussperrt vom Fest. Nicht aus bösem Willen, sondern weil es eben Vorschrift ist, dass die Tür während der Messe geschlossen bleibt.
    Bis wir die Wiesen vor dem Dorf erreichen, die voller Schlüsselblumen und Frühlingsgrün stehen, haben sich die Tränen aber längst wieder zurückgezogen, die ich in den Augen einiger im Weitergehen bemerkt habe.
    »Man hat’s ja immer schon gemunkelt«, sagt Julius, während er sich eine Schlüsselblume durchs Knopfloch zieht, »im äußersten Winkel des Reichs, gut versteckt zwischen Bergen, Wäldern und Flüsschen, soll es irgendwo noch menschliches Leben geben.«
    Und als wollte dieses Leben uns heute Morgen wieder anstecken, entsteht, wohin man hört, ein vorsichtiger Plan.
    Ich sollte mein Studienfach wechseln. Architektur! Das ist, was ich schon lange möchte und was in Deutschland bald am dringendsten gebraucht werden wird.
    Zwei Kinder? Drei? Ach, wir werden es ja doch so nehmen, wie es kommt!
    Wenn Lexi ihre Professur in Straßburg zugesagt wird, gehe ich mit. Wir waren lange genug getrennt!
    Unser Gut ist zu klein, um eine Familie zu ernähren. Wenn mein Mann eine Stelle in Rom annähme, könnten wir in den Sommermonaten mit den Kindern aufs Land ...
    Ich wollte immer fürs Theater schneidern ... oder die Oper ... vielleicht fange ich damit noch an. So alt bin ich schließlich auch wieder nicht!
    Einen Strauß Schlüsselblumen und Weidenkätzchen arrangieren wir, zurück im Schulhaus, in einer kleinen Milchkanne. Etwasvon unserer guten Stimmung überträgt sich sogar auf den Bader, der großzügig beschließt, vor der Treppe eine verschließbare Tür zu installieren, damit wir uns im Gang dahinter frei bewegen können.
    Unter den Häftlingen in der Jungenschule flüstert sich ein Gerücht herum. Einer der Gefangenen aus der Mädchenschule soll, während wir spazierten, in Fesseln aus dem Haus geführt und abtransportiert worden sein. Genaues weiß man nicht, aber es soll sich um Pastor Bonhoeffer gehandelt haben.
    Eine Tür bauen sie unsretwegen ins Treppenhaus! Sie begleiten uns auf Spaziergänge, sagen Guten Morgen, wenn sie das Essen bringen, sie wiegen uns fast schon in Sicherheit – und erinnern nur einen Augenblick später daran, dass etwas unverändert Dunkles und Willkürliches über uns allen schwebt. Die Vorstellung, dass der Bader selbst jetzt, wo sie mit uns nur noch auf der Flucht sind, Einzelne aus der Gruppe fortreißen könnte, bringt mich um den Schlaf. Stundenlang liege ich nachts wach und lausche – auf Schritte, Motorengeräusche, Türenschlagen –, morgens gehe ich als Erstes durch den Flur, schaue verstohlen in die Zimmer, zähle, ob alle da sind.
    Tagsüber kann ich es manchmal vergessen. Tagsüber vermag ich mir sogar einzureden, dass man uns vor den Augen eines ganzen Dorfes, das so geschlossen auf unserer Seite steht, kein Haar krümmen könnte! Während die Wachmannschaft gewissenhaft vor der Treppenhaustür

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