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Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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patrouilliert, füllen der Bäcker und zwei mutige Helfer Brot, Äpfel, Marmelade und Wurst in Eimer und Körbe, die am Seil aus einem der Fenster hängen. Hinter dem Rücken unserer Bewacher ziehen wir uns jeden Abend ein kleines Festmahl herauf.
    Es geht nicht einmal tief nach unten. Wenn wir wollten, überlege ich, könnten wir mithilfe des Seils und der Regenrinne ganz leicht selbst abhauen!
    »Und dann?«, erwidert Julius. »Wenn wir uns mithilfe der Dorfleute verstecken, und anders ginge es ja nicht, könnte es unsere Helfer das Leben kosten.«
    Er hat Recht. Ich brauche nur an die dreißig Franzosen zu denken, oder an General Ziehlberg, den Vorgesetzten von Joachim Kuhn. Nannis Verlobter ist hinter die russische Front entkommen, seinen General haben sie dafür vor Gericht gestellt und erschossen.
    Gerade weil die Dorfleute uns unterstützen, dürfen wir sie nicht in Gefahr bringen. Das sehe ich ein – dennoch kann ich nicht verhindern, dass der greifbar nahe Ausweg wie ein lästiges Insekt in meinem Kopf herumsummt, drängt und flüstert und die Enge des Schulhauses immer unerträglicher macht: Bald wird es euch leidtun, es nicht versucht zu haben! Sitzt herum, als ob ihr nicht zwei Hände und Füße hättet, und überlasst dem Feind euer Leben!
    Die Fenster, hat der Bader befohlen, haben fest geschlossen zu bleiben – nicht einmal hier widersetzen wir uns, folgen der Anordnung peinlich genau aus lauter Sorge, beim kleinsten Verstoß könnten die Fenster plombiert werden und es mit unserem kleinen Speisenaufzug ein Ende haben. Tante Ilselotte, die mit den Worten »Hier stinkt’s erbärmlich!« zum Lüften öffnen will, wird beinahe niedergeschrien.
    Platzt selbst fast vor Zorn: »Die folgsamen Deutschen! Aus keinem anderen Grund ist es mit unserem Land so weit gekommen!«
    Ich halte mir die Ohren zu, als Wortgeschosse hin und her fliegen. Höre Fetzen von: »... entschieden zu weit!« – »... merkt ihr denn nicht?« – »... muss ich mir nicht anhören!« – »... das Denken nicht einstellen wegen einiger Vorteile!«
    Es fehlt nicht mehr viel zu einer verdammten Abstimmung, ob wir das Fenster zum Lüften öffnen oder nicht!
    Nachts habe ich Angst um jeden Einzelnen. Tags denke ich, wir sind hier entschieden zu viele, und dass ich gern einmal alleine wäre.
     
    Nanni und Vater Kuhn dürfen zweimal aus dem Haus, um Mutter Kuhn im Spital zu besuchen. Die Männer können alle zwei Tage in den Hof zum Holzhacken, und Onkel Teddy, unser Sprecher, wird gleich mehrfach zum Bader geführt, um Anordnungen entgegenzunehmen oder ein höfliches Gesuch unserer Gruppe vorzubringen.
    Doch als sie am Donnerstag, gegen Ende unserer ersten Woche in Schönberg, an die Tür kommen und »Graf Lautlitz« herausrufen, meinen sie Max.
    Es ist so still, während er fort ist. Jemand hat die Zeit angehalten. Habe ich geatmet? Ich kann mich nicht erinnern. Ich habe nicht einmal das Gefühl, dass ich noch im Raum war mit allen anderen, obwohl Mutter meine Hand genommen haben muss, denn sie hielt sie fest in der ihren, als er zurückkam. Weiß wie die Wand, ein erloschenes Gesicht.
    Da habe ich es bereits gewusst.
     

S ECHZEHN
    Dass ich Schlüsselblumen hasse, wird nun keine Rolle mehr spielen. Dass ich gezaubert habe und mit Kühen umgehen konnte und gern noch etwas gelernt hätte, dass es drei verschiedene Namen für mich gab und ich Geheimnisse bewahren konnte.
    Dass ich richtig dumm sein konnte! Dem Anblick des Himmels auszuweichen ... ich hätte mir denken müssen, dass das nicht funktioniert. Dass der Himmel nicht »oben« ist, sondern links und rechts und geradeaus, auch hinter mir, überall. Selbst wenn man zu Boden schaut, erkennt man den Himmel noch in dem, was sich ihm entgegenstreckt.
    Dass ich verrückte Träume hatte. Durch ein Meer aus Wolken und Wind zu jagen auf der Suche nach einem kleinen Flugzeug, einem Splitter Zeit; diese eine Sekunde schneller sein zu wollen als der Amerikaner.
    Vorsicht! Hinter dir! Ausgerechnet ich, die sich in Oschgau immer vorm Wettlauf gedrückt hat!
    Wird es schnell gehen? Wird es wehtun? Markus sagt, in Dachau gebe es eine Gaskammer, aber sie sei nicht in Betrieb – zumindest war sie es nicht, als er das erste Mal hier war. Ich hoffe nur, es geht schnell. Genickschuss könnte auch sein, so wie sie uns hier an der Mauer abgestellt haben.
    Ihr hat es bestimmt wehgetan. An den Schussverletzungen gestorben auf dem Weg ins Krankenhaus, scheußlicher geht’s nicht. Das Flugzeug soll sie

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