Einundzwanzigster Juli
die nutzlos gewordenen Wachhunde. Die lauten Stimmen vor dem Lastwagen jedoch gelten uns.
»Du und du und du ... absteigen!«
»Nein, aber warum, das ist doch unsere Gruppe!« »ABSTEIGEN, HAB ICH GESAGT!«
Fünf Schatten, die vom Wagen springen. Im unsteten Licht der Taschenlampe ist nicht gleich zu erkennen, wer es ist; der Bader scheint einfach diejenigen genommen zu haben, die ganz vorne saßen und fast vom Wagen fielen. »Markus!«, schreit Tante Sofie plötzlich.
Das Rauschen in meinen Ohren schwillt an. Ein sechster Schatten erhebt sich irgendwo in der Mitte des LKW und versucht durch die dicht gedrängte Menge nach vorn zu gelangen.
»Halt! Ich gehe anstelle meines Neffen!« Die Stimme von Max.
»Sitzen bleiben!«, dröhnt der Bader, die Ladeklappe knallt zu und jetzt sehe ich sie: Markus, Reinhard Goerdeler, Franz Hammerstein, Major Schatz und Herrn Jehle.
»Mach dir keine Sorgen, Mami, wir treffen uns in Walcheren!«, ruft Markus, bevor zwei Wachen sie in die Dunkelheit treiben, den übrigen Fußgängern hinterher.
Tante Sofie bricht in Tränen aus, zum ersten Mal in all der langen Zeit, und jemand schreit außer sich: »Hättet ihr nicht enger zusammenrücken können?«
Mutter hat Recht. Es ist zwar eng auf dem Wagen, aber die zwei Zentimeter Abstand zum Nebenmann, die jeder gemeint hat,verteidigen zu müssen, hätten zusammen reichlich Platz ergeben, um die Ladeklappe hinter Markus und den anderen zu schließen. Es ist totenstill auf dem Lastwagen, als wir eine Stunde später endlich abfahren.
Trapp, trapp, trapp trommeln Holzpantinen neben uns aufs Straßenpflaster, und die blau-weißen Streifen der Häftlingsanzüge, Rücken um Rücken um Rücken, verschwimmen im Mondlicht zu einem endlosen flirrenden Muster.
»Da sind sie!«, ruft Julius auf einmal.
Ich versuche nicht hinzusehen – dann tue ich es doch. Inmitten der Häftlingskolonne marschieren unsere fünf mit ihren Wachen und verdrehen den Kopf nach jedem Lastwagen, als versuchten sie einen letzten Blick auf uns zu erhaschen.
Wohin es geht. Onkel Teddy hat einfach gefragt, als wir den Transportbescheid bekamen, und während der Bader Stillschweigen wahrte, deutete Obersturmführer Stiller an, es gehe über die Alpen. Der steile, kurvenreiche Anstieg der Straße scheint ihm Recht zu geben – mehrfach müssen wir die überladenen Lastwagen verlassen, um zu Fuß ein Stück bergan zu laufen. Die Nachtluft ist kalt und schneidend und riecht nach Schnee.
Onkel Teddy hatte betroffen ausgesehen, als der Lächler ihm unsere Route mitteilte, und nachdem wir wieder allein waren, eine Befürchtung geäußert: »Hitlers Alpenfestung.« Zwei unheilvolle Worte, die uns nun durch die eisige Kälte begleiten.
Je höher wir steigen, desto schwerer werden mir die Füße. Bleiern und wie losgelöst lassen sie sich mitschleppen – als müsste ich sie tragen anstatt sie mich.
Nein, niemand hat davon gesprochen, dass wir am Ziel auf ihn treffen könnten, aber irgendwo wird auch er sich verschanzt haben. Der Mann, den mein Onkel hatte umbringen wollen; der Mann, dem ich einen Brief geschrieben hatte, weil ich glaubte, dass er durch und durch gut ist. Der Mann, den zu sehen ich einmalalles gegeben hätte! Was, wenn ich ihm wirklich gegenübertreten müsste ... jetzt?
Im fahlen Mondlicht, das über Tannenspitzen auf die Straße fällt, erkenne ich Gesichter – die Ungarn, die uns seit Stutthof begleiten, Léon Blum und seine Frau und einige andere aus den Tagen in Schönberg. Leise werden die Namen derer geflüstert, auf die wir zum ersten Mal treffen. Der österreichische Kanzler Schuschnigg ist dabei mit Frau und kleiner Tochter, der berühmte Pastor Niemöller, der wegen seiner Predigten seit vielen Jahren schon in Haft ist.
»Glaubst du«, flüstere ich, nachdem ich mich zu Julius vorgearbeitet habe, »dass Hitler uns als Schutzschilde einsetzt, damit die Alliierten ihn verschonen?«
»Zuzutrauen wäre es ihm«, erwidert Julius, dessen Schultern niedergeschlagen herabhängen seit der Sache mit Markus; er blickt zur Seite, wo die vierjährige Sissy Schuschnigg munter plaudernd auf dem Rücken ihres Vaters reitet, und fügt heftig hinzu: »Zuzutrauen wäre ihm alles.«
»Dieser Mörder«, sage ich laut, »dieser Feigling!«, und mein Magen ballt sich zusammen vor Abscheu.
Welche Rolle spielt es noch, ob ich Hitler begegne oder nicht? Ich habe ihn ja längst gesehen! Er hat mir sein Gesicht gezeigt in allem, was passiert ist, und was immer er
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