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Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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sie, dick und grinsend: »Jetzt staunt ihr! Bin nach hier verlegt mit dem Rest der Mannschaft, wollte euch doch nicht alleine lassen!«
    Sie lacht und meint es ganz ernst. »Wo ist denn das Fräulein Nocke ?«, fragt Mutter und erntet einen schlagartig verdrießlichen Blick.
    Erst am nächsten Tag rückt die Raffold mit der Auskunft heraus, die Nocke habe ihr Heil in der Flucht gesucht, könne aber nicht weit gekommen sein. Wie auch – bei so vielen ehemaligen Häftlingen, die sich in den Wäldern herumtreiben und sie sofort als Lageraufseherin erkennen!
    »Wenn sie Glück hat«, sagt die Raffold mit einem Gesicht, als wünsche sie ihrer Kollegin etwas ganz anderes, »liefern sie sie nur an die Amis aus.«
    Hätte ich noch Lust, mir Gedanken zu machen, würde ich denken, dass die Raffold verrückt geworden ist. Macht sich keinerlei Illusionen darüber, was in Kürze mit ihr geschehen wird, und legt gleichzeitig eine unveränderte Pose gönnerhafter Obrigkeit an den Tag – als ob die Übermacht des Feindes noch nicht laut genug am Tore rüttelte!
    Oder als ob sie schon mehr über uns wüsste. Dass auch wir die Freiheit nicht erleben sollen, beispielsweise.
    Während des Tages lässt es sich im Sonnenschein auf der Wiese hinter der Baracke am besten aushalten; vom Rest des Lagers bekommt man hier am wenigsten mit. Eigentlich ist der Boden noch zu feucht, um sich darauf auszustrecken, aber Mutters Protest ist schwach, wenngleich er nicht ganz ausbleibt: »Philippa, du wirst dir eine Lungenentzündung holen, steh doch bitte auf! «
    Ich schließe die Augen und ignoriere sie, auch wenn sie mir leidtut in ihrer Ratlosigkeit. Immerhin hat sie jetzt aufgehört, pausenlos zu reden. Von all ihren Bemühungen in den letzten grauenhaften Tagen in Schönberg sind mir nur die Worte Katastrophe und verloren im Gedächtnis geblieben, wobei ich nicht ganz sicher bin, ob die Betrachtungen über das Wort verloren nicht doch aus Onkel Teddys kleiner Ansprache stammten. Was wir verlieren, ist nicht verschwunden, sondern nur woanders und für uns nicht mehr sichtbar.
    Wie diese Information Max helfen soll, weiß ich zwar nicht, aber er bewahrte Haltung. Im Grunde wirkte er die meiste Zeit, als sei er woanders, während Mutter eine einzige bange Frage ins Gesicht geschrieben stand, die sie aber nicht wagte auszusprechen: »Würdest du auch um deine Eltern so trauern?«
    Als wir am zweiten Nachmittag von der Wiese zurück in unsere Baracke kehren, stehen die Flure voller Koffer. Kinder jagen einander durch die Zimmer, Frauen schwatzen auf den Betten. »Das fehlte gerade noch«, murmelt Fey. »Nun werden die Amerikaner uns in trauter Runde mit einem Dutzend SS-Familien antreffen!«
    Auszuweichen ist kaum möglich; die kleinen Kinder sind überall und müssen in die jeweiligen Zimmer zurückgeholt oder -gebracht werden. In erstaunlicher Unbekümmertheit sitzen und warten die Frauen – auf den Großteil ihres Gepäcks, der noch unterwegs sei, Tafelsilber und echter Bohnenkaffee darunter – auf ihre Männer, die »spätestens morgen nachkommen«. Es sind die Familien höherer SS-Führer aus Oranienburg und anderen Konzentrationslagern, und sie vertreten ohne Ausnahme die Überzeugung: »Uns passiert nichts! Frauen und Kinder können schließlich nichts dafür.«
    Wenn wir wollten – und in den Häftlingsbaracken nicht gerade Fleckfieber grassierte –, könnten wir, statt auf der Wiese zu sitzen, jetzt ungehindert durchs Lager spazieren. Niemand achtet mehr auf uns, die SS ist mit Organisieren beschäftigt. Sie vernichtet Unterlagen, löst Außenlager auf und führt riesige Häftlingstrecks herein und heraus; löst sich selber auf, wie es scheint, denn von Tag zu Tag sind weniger Beamte zu sehen und denen, die noch zum Dienst kommen, ist die Aufrechterhaltung der Lagerordnung herzlich egal. Man bestiehlt einander, wie die Frauen in unserer Baracke unumwunden beklagen, schafft Wertsachen, Zigaretten, Lebensmittel und alle Arten tauschfähiger Objekte beiseite und versucht an gefälschte Papiere zu gelangen.
    Ich muss an den Ameisenhaufen denken, in den mein Bruder Fabian einmal ein Glas Wasser geschüttet hatte. An das kopflose Herumrennen des aufgeschreckten Völkchens, heraus aus dem Bau und wieder herein, um schließlich mit »Gepäck« im Eingang aufzutauchen und es ohne Ziel, aber geschäftig hin und her zu schleppen.
    Mich beschleicht allmählich das Gefühl, in Händen einer Organisation zu sein, die es schon nicht mehr gibt. Nur der

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