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Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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nicht wahr? Wir haben tatsächlich ein Plätzchen für Sie alle gefunden.«
     
    Wir sind die Letzten gewesen, die Schönberg verlassen mussten. Die Minna-Leute waren schon tags zuvor abgeholt worden, und als wir Übrigen in drei vor dem Schulhaus bereitstehende Omnibusse stiegen, blieben nur Léon Blum und seine Frau zurück. Aus fast allen Häusern wurde gewinkt, während wir durchs Dorf fuhren; ich bemerkte verblüffte, wütende Gesichter unter unserer Eskorte und schloss rasch die Augen, weil es an der Blumenwiese vorbeiging. Schlüsselblumen hatten wir an jenem Morgen gepflückt ... Blumen gepflückt und Pläne gemacht.
    Die große Holzkiste, die sie wie ein rohes Ei anfassen, war auch wieder mit an Bord, und zwar in unserem Bus, was immerhin den Vorteil mit sich brachte, dass der Bader und der Großteil der SS sich in anderen Fahrzeugen zusammendrängten. Wir ahnten längst, was in der Kiste steckte, und das Wissen darum machte die vielen Fliegerangriffe unterwegs nicht gemütlicher, selbst wenn wir sie meist auf dunklen Waldwegen abwarteten. Wenn die Amerikaner auch nur den kleinsten Treffer auf uns landen, dachte ich, gehen wir hoch wie eine Munitionsfabrik.
    Aber die einzigen Anzeichen von Nervosität, die ich an mir erkennen konnte, waren das helle Rauschen in den Ohren und ein Prickeln unsichtbarer Nadeln unter der Haut, wie ich es auch habe,wenn ich an Lexi denke, also eigentlich ständig. Oder ist es Kaltblütigkeit? Kleine Frostpartikel, die durch meine Blutbahn sausen und die Gefühle auf Winterschlaf herunterfrieren.
    Beim Fußmarsch durchs Schutzhaftlager Dachau funktioniert es auch. Hinter dem großen Torhaus erstreckt sich Reihe um Reihe identischer Baracken mit einer schnurgeraden Lagerstraße in der Mitte, über die der Bader uns einigermaßen zackig führt. Die Straße ist nicht asphaltiert und im Winter bestimmt eine einzige Schlammpfütze, aufgewühlt von vielen Tausend Holzpantinen. Jetzt ist sie staubig, knochenhart und trocken. Den Rest kennen wir. Die Türme und Mauern, den elektrisch geladenen Stacheldraht.
    Es ist Abend, offenbar kurz vor der Essensausgabe. Ein Gewimmel aus Blau und Weiß drängt sich mit und ohne Blechnapf auf der Straße und in den Barackentüren, verschiedene Stadien von Krankheit und Teilnahmslosigkeit im Gesicht. Es ist das erste Mal, dass wir nicht abgeschirmt werden, sondern mitten durch ein Lager laufen – und mein Entsetzen ist ein kleines Flämmchen, das sofort erlischt. Verdammt, denke ich, beinahe hätte ich es hinter mich gebracht! Wenn sie uns an der Mauer erschossen hätten, wäre es in dem Moment geschehen, in dem es mir fast nichts mehr ausmachte. Was, wenn ich morgen wieder Angst habe?
    Die anderen können sich, kaum sind wir am Ziel, sofort wieder freuen: über die saubere Lazarettbaracke, in die wir eingewiesen werden, das Badezimmer und die echten Betten, die erste Mahlzeit. Hübsche kleine Anlagen umgeben die Häuser, mit geschnittenem Rasen und Blumenbeeten, und auch ich stehe wenig später vor dem Duschhaus an, obwohl ich überzeugt bin, dass der Gestank, der beißend und aufs Übelste vertraut durchs Lager wabert, mir bereits in Buchenwald für immer unter die Haut gekrochen ist. Man brauchte eine neue Haut, keine Dusche! Ich habe mich in die Warteschlange gestellt, weil man dort ein kleines Handtuch bekommt, ein Handtuch, das man behalten darf.
    Kratzig und hart liegt es in meiner Hand. Ich hätte dich nicht nehmen dürfen, denke ich und merke, indem ich es wider besseres Wissen festhalte, dass ich mich von Neuem ans Leben zu klammern beginne. Ein Sieg fühlt sich anders an.
    Wie Buchenwald geklungen hat? Ich kann es kaum noch wachrufen, so laut ist es in Dachau. Die Sirenen sind wie auf Dauerton geschaltet; kaum ist ein Geschwader vom Himmel verschwunden, kündigt der Alarm das nächste an. Mal überfliegen sie uns auf dem Weg zu einem anderen Ziel, mal krachen Bomben, dass die Wände wackeln. Die Einschläge klingen ja immer näher, als sie wirklich sind, und wir rennen über die Wiese zum Luftschutzkeller des Lazaretts, der wie ein Bollwerk zwischen den Häusern steht. Bahnhof, Stadt und Schienen sind vollständig zerstört, hören wir, und auch das Lager selbst wird mehrmals im Tiefflug angegriffen, um Fahrzeuge unter Beschuss zu nehmen. Ob derjenige dabei ist, der Lexi auf dem Gewissen hat?
    »Und in Buchenwald steht jetzt der Ami«, sagt die Raffold.
    Die Raffold ist die große Überraschung unserer ersten Dachauer Bunkernacht. Da sitzt

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