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Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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Geist der SS ist noch lebendig, hat seinen nutzlosen Leib abgestreift und besetzt mit umso größerer Entschlossenheit die Köpfe, wo er gefährlicher und unberechenbarer ist denn je.
    An unserem siebten oder achten Tag in Dachau taucht ein dumpfes Grollen am Horizont auf und bleibt, obwohl der Himmel klar und blau ist.
    »Artillerie! Vierzig Kilometer«, schätzt Onkel Teddy hoffnungsvoll.
    Doch das Herannahen der Front hat für uns bisher immer nur eins bedeutet. »Am besten«, meint Mutter, »wir fangen schon einmal an zu packen.«
     
    In unseren Rucksäcken klappern Pfannen und Blechnäpfe zwischen den wenigen Kleidungsstücken, die es sich überhaupt noch lohnt mitzunehmen; im Strom der Häftlinge, der sich nach Anbruch der Dunkelheit über die Lagerstraße aufs Torhaus zubewegt und in dem es schwerfällt, einander nicht aus den Augen zu verlieren, können wir die Mitglieder unserer Gruppe nun immerhin am Geräusch des Gepäcks erkennen. Die Rucksäcke haben wir aus den Wolldecken, die sich in der Lazarettbaracke fanden, genäht, nachdem die Raffold uns auf einen Fußmarsch eingestimmt hatte: »Sie beginnen zu evakuieren! Fünftausend Häftlinge täglich, die meisten müssen laufen!«
    Seit Tagen hatten wir beobachten können, wie sich das Gewimmel im Lager lichtete. Lastwagenkolonnen brachen auf und riesige Häftlingstrecks zu Fuß, selbst der Schornstein des Krematoriums qualmte nicht mehr. Und als wir nun, zehn Tage nach unserer Ankunft in Dachau, über die Lagerstraße zurück zum Ausgang gehen, sehen wir auch, warum: nicht weil es keine Toten mehr gegeben hätte, sondern weil man sich nicht länger die Mühe macht, sie zu verbrennen. Sie liegen mal hier, mal dort, unbeachtet und vergessen, sind im Schattenspiel der Scheinwerfer erst im letzten Augenblick zu erkennen und meine größte Angst ist, auf einen von ihnen zu treten.
    Je näher wir der Mitte des Lagers kommen, desto beißender und unerträglicher wird der Gestank. Aufgetürmt zu einer weißen,ineinander verschlungenen Skulptur liegt plötzlich, wenige Meter neben uns, ein Berg aus toten Körpern.
    Ich merke gar nicht, dass ich stehen geblieben bin. Ich merke es erst, als jemand mir eine Hand auf den Rücken legt und mich sanft weiterschiebt. Max! Die Stelle brennt noch, nachdem ich längst auf den Lastwagen geklettert bin.
    Hätte ich doch an dem Morgen mit ihm geredet! Das Gewicht meiner Sprachlosigkeit drückt von Tag zu Tag schwerer, die Worte, die ich sofort hätte finden müssen, sind nur noch weiter in die Ferne gerückt. Lexi wäre enttäuscht von mir.
    Wäre sie? Sie, die mich immer durchschaut hat? Worte, wie du sie suchst, gibt es doch gar nicht, Klexchen. Hast du das denn nicht gewusst?
    Hilf mir!, flehe ich stumm und spüre, dass sie es vielleicht schon versucht. Dass sich der harte Griff um meine Brust lockert und ein wenig Luft durchlässt, und für einen Augenblick noch etwas anderes in mir ist als Leere und Kälte.
    Es reicht schon für ein wenig Mitleid mit Vater Kuhn. »Ich kann doch die Mutter nicht hierlassen! «, weint er auf dem Lastwagen, aber es nützt nichts, er muss mit und sie bleibt zurück – transportunfähig, heißt es, und dass sie dem Roten Kreuz übergeben werde.
    Wer’s glaubt!, denke ich. Dem Roten Kreuz hätten sie sie auch in Schönberg übergeben können, anstatt sie aus dem Krankenhaus zu holen und noch einmal auf Transport zu zwingen!
    »Aber diesmal ist es wirklich zu ihrem Besten«, redet Nanni auf Vater Kuhn ein. »Wenn ich mir vorstelle, die Arme müsste noch einmal mit! Das Rote Kreuz wird sie nach Geppingen entlassen, erinnerst du dich? Das ist die Adresse, die wir angegeben haben.«
    Wenn ich mir vorstelle, die Kuhns hätten Nanni nicht gehabt in diesen langen Monaten! Ihr zukünftiger Schwiegervater beruhigt sich tatsächlich und gibt zu, dass sie vermutlich Recht hat.
    Ich werfe einen Blick zurück. Das Torhaus ist hell erleuchtet, immer noch strömen Häftlinge hindurch und eilt SS mitGewehren hin und her. Taschenlampen blitzen, ich höre Gemurmel und laute Kommandos, Hundegebell und über allem das Klappern und Schlurfen Tausender Holzpantinen, unter deren Klang lange Reihen von Häftlingen in der Dunkelheit verschwinden. Viele haben Decken über den Schultern wie ich, denn trotz des freundlichen Wetters am Tage kann es nachts noch Frost geben.
    Im Inneren des Lagers fallen Schüsse, ich hülle mich fester in meine Decke. Häftlinge, die zu schwach zum Marschieren sind, nehme ich an ... oder

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