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Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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Ärmel ziehen: »Entschuldigung, kann mir jemand sagen, was aus der bedrückten Schar geworden ist, mit der ich heute Morgen hier angekommen bin?«
    Kann mir jemand sagen, was aus der SS geworden ist?
    Die SS – oder was von ihr übrig ist – steht herum und sieht aus, als versuche sie genau dieser Frage dringend auszuweichen. Rund dreißig Wachen sind es für fast hundertfünfzig unbekümmert wirkende Häftlinge; Häftlinge aus einundzwanzig Nationen, bringt mich Julius auf den neuesten Stand. Englisch, Polnisch, Französisch und Russisch sind zu hören, Niederländisch, Dänisch, Schwedisch, Norwegisch und andere Sprachen, und über allem das laute und triumphierende Organ einiger Italiener, die sich – nahe dem Brenner! – schon so gut wie zu Hause fühlen.
    Offenbar bewegen wir uns auf diesem schäbigen Hof inmitten der hochrangigsten Persönlichkeiten, die Himmler in seine Gewalt gebracht hat. Mehrere Prinzen, Generäle und hohe Offiziere sind darunter, prominente Geistliche und der Neffe von Winston Churchill, und bei den sieben temperamentvollen, ordensbekränzten, sehr kleinen und sehr alten Herren mit Vollbart handelt es sich um den gesamten griechischen Generalstab. Ein eifriges Stimmengewirr, ein Rufen und Lachen liegt über dem Hof. Von Angst ist nichts zu spüren.
    Und die SS steht dabei, bewaffnet, aber ohnmächtig und überrumpelt, als habe man ihr den Boden unter den Füßen fortgezogen. Angst, erkenne ich entsetzt, ist das Einzige, was sie gegen uns in der Hand hatten!
    Mir wird schwindlig. Verstohlen lehne ich mich gegen die Wand der Baracke und beobachte, wie der eine oder andere bereits ein scheues Grinsen sehen lässt, als ginge ihm der Gedanke durch denKopf, dass es allmählich von Vorteil sein könnte, sich auf unsere Seite zu schlagen.
    »Have a cup of tea, dear«, sagt Mr Best mitfühlend. Ich kann es kaum glauben: Die Engländer haben sogar Tee gekocht!
    »It will make you feel so much better! ”, ergänzt Julius und grinst. Erst dann erzählt er, was passiert ist. Mr. Best hat nach einigem Fragen und Drängen vom Lächler erfahren, dass wir in einem Hotel in Südtirol die Ankunft der alliierten Truppen abwarten sollen! Die uns begleitende SS habe nur noch dafür zu sorgen, dass unsere Befreiung geordnet abläuft.
    »Was wir hier erleben«, sagt mein Vetter, plötzlich ernst, »ist eine vorgezogene Siegesfeier.«
    »Siegesfeier«, wiederhole ich, »Siegesfeier«, und spüre, wie sich in den bitteren, heißen Tee jäh der Geschmack von Tränen mischt. »Aber glauben solltest du es noch nicht«, murmelt Julius.
    »Was sagst du da?«
    Julius weist mit dem Kopf zu einem der Ausgänge der Baracke. »Die drücken sich schon seit einer halben Stunde da herum.«
    Ich folge seinem Blick und entdecke mehrere finster dreinschauende Gestalten, die sich in der Nähe vom Bader halten; Männer, die bisher nicht zu unserem Transport gehört hatten. »Der Bader ist nicht nur SS, sondern SD, Sicherheitsdienst. Du weißt, was das heißt?«, fragt Julius vorsichtig.
    Ich schüttle den Kopf. »Diese Kerle waren für die Hinrichtungen in Buchenwald und Flossenbürg zuständig«, erklärt er mit gepresster Stimme. »Und jetzt sind sie hier.«
    Meine Haut beginnt augenblicklich zu prickeln.
    »Julius«, sagt jemand leise und strafend und ich stelle erschrocken fest, dass Max neben mir steht.
    »Ich musste es ihr sagen!«, verteidigt sich mein Vetter. »Wir sollten alle die Augen offen halten.«
    »Wir sollten uns erst einmal zurückhalten«, erwidert mein Onkel. »Seht euch an, wie Stiller und Bader einander beäugen.«
    Es stimmt. Der Lächler und sein SS-Trupp verlieren die SD-Leute keine Sekunde aus den Augen.
    »Vielleicht haben sie unterschiedliche Befehle«, flüstere ich und mir wird abwechselnd heiß und kalt, weil es meine ersten Worte an Max sind.
    »Das glaube ich auch«, flüstert er zurück. »Womöglich halten sie sich gegenseitig in Schach und wir haben nichts mehr zu befürchten. Also bitte keine weiteren Gruselgeschichten, Julius!«
    Er drückt mir aufmunternd die Schulter und schlendert davon, seine hochgewachsene Gestalt die meisten anderen überragend, sodass mein Blick ihm, ob ich will oder nicht, durch den Hof folgen kann. »Gruselgeschichten!«, wiederholt Julius beleidigt.
    Ein Glück, denke ich, den Blick an Max’ Rücken geheftet. Wir haben es hinter uns!
    Aber wie »Glück« fühlt es sich nicht an. Eher feige und enttäuschend, kaum weniger schlimm als vorher. Zwar habe ich mit ihm

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