Einundzwanzigster Juli
vorhat, ich bin fertig mit ihm. Er wird mir nichts mehr anhaben können.
»Schön«, meint Julius mit halbem Lächeln, »dass du wieder sprichst. Markus ist schlau«, sagt er. »Er wird sich etwas einfallen lassen. Er kommt bestimmt durch!«
Fey meint, wir seien geübte KZ-Insassen geworden, so mühelos wie wir uns im Durchgangslager bei Innsbruck unter die vielen mischen, die sich dort bereits auf die Füße treten. Die Passagiere der grünen Minna, allen voran Mr Best, empfangen uns mit offenen Armen: »There, there, my friends from Schonbörg! «‑
Fey hat in den zwei Wochen nichts unversucht gelassen, um Max ein Lächeln zu entlocken, und mit dieser Bemerkung gelingt es ihr erneut. »Tapferes Mädchen!«, meint er warm und ich fühle einen Stich der Eifersucht – nicht, weil ich ihr die Anerkennung missgönne, sondern weil ich allzu gern wäre wie sie, aber nicht einmal die Anlagen dazu besitze.
Zwecklos, Klexchen. Du bist ein Grübler wie ich!
Ich muss beinahe lachen. Genau, denke ich und spüre einen weiteren kleinen Lichtstrahl in meine Traurigkeit fallen.
Reichenau ist ein kleines Lager, von Stacheldraht umgeben, mit einer einzigen heruntergekommenen, schmutzigen Baracke in der Mitte. »Ihr braucht nicht auszupacken, wir bleiben nicht!«, teilen uns noch im Hof diejenigen mit, die schon seit Tagen hier ausharren. »Ihr seid der letzte Transport. Heute Abend noch soll es über den Brenner nach Südtirol gehen.«
»Den Brenner? Heißt es nicht, dass die Alliierten den Pass zerstört haben, um den Fluchtweg nach Süden abzuschneiden?«
»Nun, ich hoffe, Sie haben noch brauchbares Schuhwerk, mein Freund.«
Stimmen schwirren durcheinander; ich blicke in lauter fremde Gesichter, die nun offenbar zu uns gehören, und kann mir nur den malerischen Namen General Garibaldi merken. »Wir müssen dringend ein paar Stunden schlafen, Fritzi. « Mutter sieht grau und erschöpft aus. »Wer weiß, was heute Nacht auf uns zukommt.«
»Sie können unser Zimmer haben«, meint ein freundlicher, vornehm wirkender älterer Herr, der sich mit Fey unterhalten hat, und weist uns den Weg zu einem Raum mit vier klapprigen Etagenbetten, auf die wir uns zu sechst verteilen.
»Das war Prinz Philipp von Hessen«, sagt Fey bedrückt, nachdem er uns allein gelassen hat. »Er hat mich gefragt, ob wir in Buchenwald etwas von seiner Frau gehört haben. Ich habe es einfach nicht übers Herz gebracht, ihm zu sagen, dass die arme Mafalda schon lange tot ist.«
»Aber Fey«, ruft Mutter, »das hättest du tun müssen! Er muss Gewissheit haben!«
»Doch nicht jetzt! Er braucht Mut und Hoffnung für das, was vor uns liegt. Nach der Befreiung können wir es ihm immer noch sagen.«
Sofort entbrennt eine heftige Diskussion über den richtigen Zeitpunkt für schlechte Nachrichten, die Ina ziemlich schnell mit den Worten beendet: »Wenn mir da draußen jemand gesagt hätte, dass meine Kinder nicht mehr leben, würde ich keinen Schritt weitergehen. «
Fey und Mutter verstummen. »Natürlich leben sie noch, Ina«, sagt Tante Sofie leise.
Ina antwortet nicht, dreht sich zur Wand und zieht den Rucksack als Kissen unter ihren Kopf. In Schönberg habe ich sie zwei Mal weinen sehen: um Lexi, und um den Verlust der einzigen Kontaktperson zu Konstantin und Caroline.
Ich schließe die Augen und halte still, als Mutter sich hinter mir auf dem Bett ausstreckt und den Arm um mich legt. Lexi hat auf uns alle aufgepasst – sollte mir schon meine Mutter zu viel sein? Nach kurzem Zögern lasse ich meine Hand auf ihre sinken. Sie atmet tief ein, es klingt wie ein Schluchzen.
Es hat doch gar nichts mit dir zu tun, Mutter. Du bist mir nicht plötzlich egal geworden! Ich bin müde, das ist alles, müde und traurig und wütend.
Ich muss es ihr gar nicht erklären, denke ich. Genauso muss sie sich gefühlt haben, als Fabian gestorben ist. Deshalb hat sie mich nach Oschgau geschickt. Meine Erziehung der HJ überlassen, obwohl das das Letzte war, was sie wollte. Sie war müde und traurig und wütend, aber es hatte nicht das Geringste mit mir zu tun.
»Haben die Alkohol getrunken?«, frage ich misstrauisch und Julius lacht. »Ein Übermaß an Schlafentzug und überstandener Gefahr könnte denselben Effekt haben«, klärt er mich auf.
Überstanden ? Verwundert sehe ich mich um. Ich habe zwei, höchstens drei Stunden geschlafen, aber es muss gereicht haben, um meine Reisegruppe zu verpassen. Spurlos verschwunden! Beinahe möchte man den Nächststehenden am
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