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Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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und lassen sich Klamotten schneidern, und das Volk wird gezwungen, sein letztes Hemd für die Winterhilfe zu spenden!«
    Verdutzt drehe ich mich um. Fünf finstere Augenpaare starren mich an. Von wegen Autogrammjägerinnen! »Steig ein, Fritzi«, sagt Lexi ungewohnt scharf. »Tuch vors Gesicht!«
    »Unsereiner kriegt schon lange kein Benzin mehr«, meutert eine Frau.
    Mit rotem Kopf rutsche ich tief in den Beiwagen und halte den Koffer über der Einstiegsluke fest, während mir Lexi das Gesichtstuch knotet. »Machen Sie, dass Sie weiterkommen, oder ich lasse Ihre Personalien aufnehmen!«, droht der Chauffeur.
    Einen Augenblick lang glaube ich, er meint uns! Die Frauen ziehen sich zurück, aber nicht ohne dass eine ganz unverhohlen vor dem Laden ausspuckt. »Die Abzeichen ... sind Sie Hanna Reitsch?«, fragt der Chauffeur.
    »Nein«, bedauert Lexi freundlich und schwingt sich aufs Motorrad.
    Es gehört ihr gar nicht!, würde ich den Weibern am liebsten nachrufen. Es gehört der Luftwaffe und meine Mutter hat auch fast nichts mehr im Kleiderschrank!
    Warum tue ich es eigentlich nicht? Lexi lässt den Motor an, und im Anfahren hebe ich mein Tuch und brülle aus Leibeskräften: »Das Motorrad gehört uns nicht und wir spenden auch für die Winterhilfe, du dumme Kuh!«
    Worauf meine Tante so lachen muss, dass wir fast aus der Kurve fliegen. Ich selbst kann nichts Komisches an meinen Worten erkennen. Hoffentlich lassen sie Mutter in Ruhe ... hoffentlich zünden sie ihr den Laden nicht an ... hoffentlich ... sehen wir uns ...
    Nein. Das ist ein Gedanke, den man nicht zu Ende denkt. Wenn man den zu Ende denkt, hat man schon verloren. Im Krieg gibt es nur eine Richtung, sagt Vater, und die geht nach vorn.
    Es gibt Schöneres als eine Fahrt im offenen Beiwagen durch eine verbrannte Stadt. Der Fahrtwind schleudert uns Wolken aus Rauch und Ruß entgegen und er vertreibt auch den schweren, süßlichen Geruch nicht, der aus verschütteten Kellerlöchern dringt. Am Bordstein machen Frauen an Wasserpumpen große Wäsche, schwatzen und lachen, während hinter ihnen völlig unbeachtet ein Haus abbrennt. Bis zum zweiten Stock ist alles schwarz, darunter lodert es noch, aber ohne viel Kraft. Wahrscheinlich konnten die Bewohner noch in aller Ruhe ihre Besitztümer auf die Straße schaffen und sind längst weitergezogen. Wie langsam ein Haus abbrennen kann! So langsam, dass es schon niemanden mehr interessiert.
    Lexi umkurvt Schutthaufen und liegen gebliebene Fahrzeugskelette, so rasch es geht, und kaum drei Minuten von zu Hause habe ich bereits keine Vorstellung mehr, wo wir uns befinden. Meinen vertrauten Kiez, in dem ich aufgewachsen bin und jeden Stein kannte, gibt es nur noch in der Erinnerung.
    »Immer noch Charlottenburg!«, ruft Lexi.
    Kann sie Gedanken lesen oder denkt sie nur zufällig dasselbe? »Halt deinen Koffer fest!«
    Wir holpern den Bürgersteig hinauf und um einen großen Krater herum; ich werde mit grün und blau geschlagenen Knien in Lautlitz ankommen und meine kleinen Vettern und Kusinen werden denken, das käme von den Bombenangriffen und die Beine der Berliner sähen jetzt alle so aus. Etwas fliegt mir ins Auge, es fühlt sich an wie eine ganze Handvoll Sand und mischt sich mit viel mehr Tränen, als nötig wären, um es hinauszuschwemmen. Peinlich berührt ziehe ich das Tuch etwas höher – als ob Tränen in diesen Tagen irgendjemand auffielen!
    Einige Kilometer die Heerstraße hinauf wird der Blick plötzlich klarer, die Luft kühler und Lexi reißt sich den Gesichtsschutz herunter, um tief einzuatmen. Ich folge ihrem Beispiel, lehne mich zurück, lasse mein Tuch im Wind flattern. Über einem Dach aus sattem Laub blitzen Sonnenstrahlen auf, so hell, dass sie die Feuer in unserem Rücken fast vergessen machen.
    Auf einmal kann ich mich nicht sattsehen an Bäumen. Am liebsten würde ich aus dem Beiwagen springen und hindurchlaufen, das Knacken von Zweigen unter den Schuhen spüren, der Kaskade zwitschernder kleiner Stimmen lauschen. Hier haben sie sich also versammelt, die Glücklichen ...! Konnten dem Krieg einfach davonfliegen, mussten nur wenige Kilometer aus der Stadt hinaus.
    Könnten die Menschen nicht folgen? Ich sehe die Plakate schon vor mir: Berliner in den Wald! Die Luft ist gut, das Wetter schön, Wasser gibt es nur wenige Meter weiter aus der Havel. Ja, warum eigentlich nicht? Bis zum Winter könnte man Hütten bauen!
    Aber die Antwort kommt mir schon entgegen: mehr und mehr Militärfahrzeuge,

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