Einundzwanzigster Juli
der Olympiade mitgemacht?« Mir steht der Mund offen.
»Nicht doch! Nur eine Kunstflugvorführung«, wehrt sie bescheiden ab. »Doch das Bild schindet Eindruck! Manche von diesen Kerlen sind zwei Meter groß und ziemlich gönnerhaft, da muss man sich etwas einfallen lassen. Und das da«, sagt sie, als mein Blick an einer auf dem Tisch liegenden Zeitung hängen bleibt, »ist schwedisch.«
Aus der aufgeschlagenen Zeitung sieht mir Lexis Foto entgegen. Sie steht in Uniform an einem Rednerpult. »Schwedisch«, bemerke ich. »Uff! Peng! Hui!«
»Von allen meinen Nichten«, sagt Lexi und lacht, »bist du mit Abstand die Unterhaltsamste, Klexchen. «
»Danke schön, aber ich kenne alle deine Nichten ! Sie sind vier und fünf Jahre alt!« Ich tippe auf das Foto. »Wovon hast du den Schweden erzählt?«
»Von Frauen in der Flugerprobung. Ich bin in den schlimmsten Angriffen nach Stockholm geflogen, eine wahre Odyssee. Ich dachte schon, ich komme nie dort an.«
»Hast du denn niemals Angst?«
Sie schweigt. Die Frage verblüfft sie. »Doch«, sagt sie schließlich. »Aber ganz selten um mich selbst. Ich bin nicht leichtsinnig, ich kann recht gut einschätzen, was geht und was nicht. Alles andere ist Zufall, und über Zufälle denke ich einfach nicht nach.«
»Und das geht ...?«
»Meistens schon. Bestimmte Dinge liegen eben in meiner Hand, andere nicht.«
»Und er ...?« Ich zeige auf die Plastik von Onkel Max.
»Was ihn betrifft«, gibt Lexi unumwunden zu, »funktioniert die Methode natürlich überhaupt nicht.«
Sie wendet sich wieder ihrem Koffer zu, faltet eine Bluse hinein. Ihre Traurigkeit ist plötzlich zum Greifen nahe und ich könnte mich ohrfeigen, noch einmal von Max angefangen zu haben. »Das lässt nach, weißt du«, sage ich zögernd. »Das Vermissen. Vater vermisse ich fast gar nicht mehr.«
Lexi schaut mich seltsam an. »Dann wird es Zeit, dass er nach Hause kommt, findest du nicht?«
Aber sie lässt es nicht wie eine Frage klingen, auf die sie eine Antwort erwartet.
Vor etwa sechs Wochen habe ich an Adolf Hitler geschrieben. Die ersten Sätze standen schon auf dem Briefbogen: »Sehr verehrter Herr Führer! Bestimmt können Sie sich nicht an mich erinnern, aber ich heiße Philippa Bredemer und bin die Tochter von Oberstleutnant Hans Bredemer, Quartiermeister in einer Jägerdivision der Heeresgruppe Mitte. Nach reiflicher Überlegung habe ich mich entschlossen, Ihnen zu schreiben, da ich Zeugin eines Ereignisses geworden bin, von dem Sie dringend erfahren sollten.«
An dem Wort Zeugin habe ich lange herumüberlegt. Ich konnte es drehen und wenden, wie ich wollte – ich wusste, dass ich mehr war als das. Aber gab es ein Wort dafür? Ich fand keins. Zeugin blieb stehen.
»Hier in Oschgau, Ostpreußen«, schrieb ich weiter, »sind in der Landwirtschaft viele Fremdarbeiter und Kriegsgefangene eingesetzt, so auch bis zum 20. Mai d. J. der frühere Bäcker Piotr aus Krakau, 42 Jahre alt, dessen Nachname mir leider nicht bekannt ist.«
Wieder kam ich ins Stocken. Nun überlegte ich, ob ich nicht besser den letzten Halbsatz streichen sollte, da er den Eindruck erweckte, mir sei nicht bewusst, dass die Namen der polnischen Fremdarbeiter keine Rolle mehr spielten, sobald sie dem Deutschen Reich zugeführt wurden. Mit Sicherheit war Piotrs Nachname in Oschgau nie bekannt geworden. Er war »der Piotr«, »der Pole«, häufiger noch: »Unser Pole«, und neben ihm gab es auf dem Hof sogar einen »Piotr zwo«, obwohl der in Wirklichkeit Romek hieß.
Ja, entschied ich, der Satz störte, ich wollte keineswegs naiv wirken. Ich nahm ein sauberes Blatt Papier und begann den Brief noch einmal abzuschreiben, um hinter der Angabe 42 Jahre alt einen Punkt zu setzen.
Doch kaum war ich dort wieder angelangt, beschlichen mich erneut Zweifel. Durfte ich überhaupt wissen, dass Piotr 42 Jahre alt gewesen war? Der Kontakt zu den Polen und Russen war streng verboten, nicht einmal Guten Tag sollten wir sagen und erst recht kein Schwätzchen halten – woran sich zwar niemand hielt, selbst der Bauer nicht, und Piotr eins und zwo aßen ihre Mahlzeiten sogar am selben Tisch wie wir, doch wenn ich zugab, Piotrs Alter gekannt zu haben, stieß ich möglicherweise Nachfragen und Untersuchungen über die Einhaltung der Fremdarbeitervorschriften an!
Es half nichts, ich musste ein weiteres Mal von vorn anfangen, und wo ich schon einmal dabei war, ließ ich in der nächsten Fassung auch meine Kenntnis über Krakau und den Bäcker
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