Einundzwanzigster Juli
Kameraden.
Warum nicht? Ich klopfe auch darauf, um dem Storch Vertrauen und Zuversicht zu bekunden, ihm gewissermaßen einen Bund anzubieten, damit er uns heil ans Ziel bringt. »Bestimmt haben wir Fallschirme?«, frage ich tapfer.
»Nein. Wir fliegen zu niedrig, sind im Ernstfall schneller unten, als ein Fallschirm sich öffnen kann. Du sitzt hinter mir mit dem Gepäck; du wirst staunen, wie viel du von dort aus siehst! Willst du mal hineinkrabbeln? So zur Probe?«
Lexi hebt unsere beiden Koffer ins Flugzeug und hält einladend die Türklappe auf. Ich steige auf die Trittleiter, ziehe mich hoch, falle auf den Rücksitz – und zack, sitzt Lexi auch schon vor mir im Pilotensitz und die Tür ist zu. Von wegen zur Probe! Immerhin hatsie mit der Behauptung nicht gelogen, man könne viel sehen: Der Storch ist ein Beobachtungsflugzeug und hat große Fenster zur Seite, nach oben und nach vorn.
Aber eng ist es, eng und laut, sobald der Motor anspringt und der Propeller sich dreht, erst langsam, dann schneller – längst nicht so schnell, wie ich erwartet hatte. Das soll reichen, um uns in die Luft zu heben ...? Erst einmal rollen und hoppeln wir mit wachsendem Tempo über einen Grasstreifen, eine Startbahn ist nirgends zu sehen.
Eingesperrt! Lexi ist gemein! Keller war nichts dagegen!
Etwas saugt an meiner Magengegend, das Poltern hört auf ... und wir sind in der Luft! Die Flughafengebäude verschwinden unter unseren Füßen und tauchen ein ganzes Stück hinter uns wieder auf, und ebenso unvermittelt, wie wir den Boden verlassen haben, öffnet sich nach vorn ein ganz anderer Blick: ein Blick auf Wiesen, einen breiten Waldstreifen und auf die kleinen Seen und gewundenen Flussarme des Havellandes.
Mir verschlägt es die Sprache. Nur ganz tief in mir flüstert es: Oh mein Gott, ist das schön!
Nach links versuche ich nicht zu sehen – nach links, wo sich unter einer schmutzigen Dunstglocke die Schatten der zerstörten Stadt abzeichnen. Aber dann entschließe ich mich doch, schaue hin und halte aus, nehme Abschied. Mit Berlin ist es vorbei. Wer sollte all das je wieder aufbauen?
Es ist gut, dass ich es gesehen habe. Von nun an wird es leichter sein, nach vorn zu blicken.
Lexi reicht mir eine Karte, damit ich den Weg verfolgen kann – vom Berliner Umland bis hinunter nach Württemberg, eine Reise quer durch Deutschland im fünften Kriegsjahr. Zwischen kleinen Dörfern im Brandenburgischen fahren sie die Ernte ein, sieht man Pferde vor Fuhrwerken trotten und Menschen Heu auf Wagen gabeln. An einer Flusssenke laufen Kinder ein ganzes Stück hinter dem Schatten des Storchs her, der sich auf die Wiesen zeichnet; indas gleichmäßige Brummen der Motoren mischt sich das abgehackte, ferne Bellen der Dorfhunde, und jäh das Heimweh nach Oschgau ... für immer dahin, wie Berlin.
Dann wieder eine Stadt, schwarz und klaffend die Gerippe zerbombter Häuser. Leipzig, sagt die Karte. Wir folgen der Pleiße, an deren Ufer Angler sitzen, lassen den Krieg wieder hinter uns, doch die rechte Freude will sich mit einem Mal nicht mehr einstellen. All die unberührten kleinen Dörfer, die Heugabelschwenker und Flusswiesenläufer ... wann wird der Krieg auch zu ihnen kommen?
Ich weiß, dass ich so nicht denken darf. Ich weiß, was ich mir zu sagen habe: dass in einem kleinen Ort an der Ostsee die Wunderwaffe entsteht, die den Krieg gewinnen wird, dass es der Feind ist, der sich fürchten muss, dass die Opfer und Entbehrungen des deutschen Volkes nicht vergebens sein werden.
Aber oben in der Luft kann man sich sagen, was man will, man sieht doch nur eins: dass der Krieg bald zu Ende gehen muss, wenn von dem, was einmal schön war, etwas bleiben soll.
V IER
Durch die zarten Vorhänge am offenen Fenster geht kaum merklich ein Wehen; vielleicht ist es mein Aufschrecken, das sie bewegt hat. Draußen herrscht Stille, als hielte alles, was lebt, die Luft an. Die Sonne berührt schon die Hügel und wirft einen langen Schatten, in den sich die ersten Dächer des Dorfes schmiegen; die Westseite des Schlosses, und mit ihr mein Zimmer, liegt in einem letzten Streifen Licht.
Angenehm ist es nicht, so aufzuwachen – oder eingeschlafen zu sein, ohne es zu wollen! Erst das Brummen und Vibrieren des Storchs, das immer noch durch meine Glieder pulst, erinnert daran, wo ich bin und woher ich komme.
Auch von nebenan ist kein Laut zu hören. In den letzten Sekunden, auf die ich mich besinne, hat Lexi noch ausgepackt: wenige Kleidungsstücke, viel
Weitere Kostenlose Bücher