Einundzwanzigster Juli
Schreibzeug und Bücher, als plane sie zwei Wochen zu bleiben anstatt zwei Tage. Ich stehe vom Bett auf – hatte ich es nur kurz ausprobieren wollen? Die weißen Kissen waren einfach zu verlockend! –, werfe einen Blick durch die Tür, die Lexis Zimmer von meinem trennt, aber natürlich ist sie längst im Haus unterwegs. Sie ist oft hier, nicht so fremd wie ich. Ich wäre lieber mit ihr zusammen nach unten gegangen.
Die beiden ineinander übergehenden Gastzimmer im obersten Stock sind unsere; sie haben je ein großes Bett mit geschnitzten Pfosten, einen passenden Schrank und unter der Dachschräge einen Schaukelstuhl, dazu eine kleine Kommode mit Spiegel und in Lexis Zimmer einen Schreibtisch. Auf den Holzdielen liegen helle Teppiche, auf den Nachttisch hat jemand einen Blumenstrauß gestellt. Es sind dieselben Blumen wie auf dem Aquarell neben derTür, und über dem Bett prangt in Öl das Gegenbild: eine Urahnin, die zu Lebzeiten offenbar nicht viel zu lachen hatte.
So still erkenne ich das Schloss kaum wieder. Ich war bislang nur zu Familientreffen hier, wenn es bis hinunter in den Park von Menschen summte, die allesamt mit mir verwandt sein mussten. Es gab eine Musikkapelle, Berge von Essen, Hüte, die durch den Garten schwebten und Grüppchen von Männern mit Brasil-Zigarren. Wie Mutter sich veränderte, sobald sie ihren Fuß aus dem Auto setzte! Noch tagelang nach unserer Rückkehr blieb sie diese Fremde, Andere – aufgedreht, traurig und sehnsüchtig.
Gibt es das Treffen noch? Ich muss elf gewesen sein, als ich zum letzten Mal hier war. Aus meinem Fenster blicke ich auf die Stelle, wo sonst das Zelt mit dem Essen stand, jetzt eine sommertrockene Rasenfläche, auf der Hühner picken. Ein Kiesweg führt zu einem der vier runden, in die Mauer eingelassenen Ecktürme, dahinter schauen die Wipfel der Apfelbäume hervor, über deren Äste man, wenn man nicht erwischt wird, von der Mauer in die Obstwiese klettern kann. Ringsum erstrecken sich die waldreichen Berge der Alb. Mutter ist als Kind oft hinaufgewandert – Großmutter von Lautlitz, die ich Omama nennen darf, weil ich keine eigene mehr habe, hat die drei Vettern gezwungen, sie mitzunehmen, wenn sie in den Ferien zu Besuch war.
Das ist Philippa, die Tochter von Almut ... Auf den Treffen hat man mich herumgereicht. Stolz war ich! Jeder wusste, wer Almut ist. Ich habe mich mit denselben Worten vorgestellt, wann immer sich die Gelegenheit ergab: »Hallo, was spielt ihr? Ich bin Philippa, die Tochter von Almut.« Mutter, meine Eintrittskarte in eine andere Welt.
Dabei ist Schloss Lautlitz auf den ersten Blick nicht mehr als ein großes, dreistöckiges Landhaus, schlicht und eckig und ohne Schnörkel. Der Vorfahr, der es errichtet hat, muss ein bescheidener Mensch gewesen sein; es könnte als Landschulheim durchgehen oder als Gutshof, wären da nicht die Mauer, die Wehrtürme undWirtschaftsgebäude. Es gibt zwei Pachthöfe, deren Pächter Omama Rechenschaft ablegen, und eine eigens für die »Herrschaft« reservierte Bank in der Kirche. Das kleine Dorf beginnt gleich hinter dem Schlossportal; noch vor wenigen Jahrzehnten stand fast jeder Einwohner im Dienst der Grafen von Lautlitz.
Nun, die Kaiserzeit ist vorüber und die Privilegien des Adels auch, wie man uns in der Schule erklärt hat. Und heute – dem Führer sei Dank! – sind wir nicht nur alle gleich, sondern überdies ein einig Volk . Die frühere Dienerschaft, jetzt Personal genannt, ist im Schloss nur noch zu dritt: die Haushälterin Witta und zwei Mädchen, dazu eine Kinderschwester, seit Tante Ina im Vorjahr mit Konstantin und Caroline aus Berlin hergezogen ist, und ein französischer Kriegsgefangener, der bei Reparaturen in Haus und Garten hilft. Es wird locker zugehen, meint Mutter, ohne einen Hausherrn, nur mit Omama, Lexi, Ina und den Kindern.
Aber zum Essen zieht man sich um! Daran hat sie gleich gedacht und mir eins ihrer Kleider eingepackt, das man mit zwei Oberteilen, einem Tuch oder Schal von Abend zu Abend variieren kann. Dass es ein und dasselbe Kleid sein darf, ist Zugeständnis an die Kriegsgarderobe.
Sitzen sie in Berlin wieder im Keller? Haben sie es geschafft, das Kaninchen zu braten? Gibt es Alarm oder wird es eine weitere Nacht ruhig bleiben?
Von irgendwo im Haus hört man die hellen Stimmen der Kinder. Es ist sieben Uhr, Zeit hinunterzugehen. Ich schließe das Fenster und sehe einige Augenblicke zu, wie zwei Stechmücken, die einzigen feindlichen Flieger weit und breit,
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